Alles ganz harmlos? – Subversion in der Lyrik
von Alexander Amberg
„Warum Gedichte?“, mag man sich fragen. In einer von steter TV-Berieselung und seichter Unterhaltung geprägten Gesellschaft, die alles auf ihren Nutzwert hin überprüft, steht Lyrik nicht hoch im Kurs. Im Gegensatz dazu versicherte Hilde Domin (1909-2006) mir einmal, welches Privileg es doch sei, sich mit Gedichten beschäftigen zu dürfen. Um ein Haar hätte ich als Titel dieses Essays „Wozu Lyrik heute?“ gewählt. Doch den kann bereits Frau Domin für sich beanspruchen (erstmals erschienen 1968).
Vor Jahren veranstaltete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira einen Gedichtwettbewerb, und die Verantwortlichen waren überrascht von der Flut an Einsendungen. Sie hatten mit einigen hundert Zusendungen gerechnet. Stattdessen erhielten sie tausende, meist von Beduinen. Nun wissen wir also, wie die Wüstenbewohner sich abends in ihren Zelten die Zeit vertreiben: Sie schreiben Gedichte.
Vor wenigen Jahren kam aufgrund eines erbärmlichen Textchens die Böhmermann-Affäre ins Rollen, die zwei Dinge vor Augen führte: nämlich welchen Stellenwert die Meinungsfreiheit im 21. Jahrhundert hat, und dass heute ein Text bereits als Gedicht durchgeht, wenn er nur einen Reim enthält. Wer übrigens wissen möchte, was Satire darf, sollte Juvenal (um 60-127 oder 138 n. Chr.) lesen. Vor fast 2000 Jahren setzte er die Maßstäbe: Sie darf alles.
Ein lyrisches Kunstwerk ist etwas völlig anderes. Es verdichtet Sprache, prüft Worte auf ihren Gehalt. Es mag persönlicher Ausdruck sein, geht aber weit darüber hinaus. Es eröffnet Ambiguitäten, Mehrdeutigkeiten, auch Widersprüchliches.
Unter Romantik zum Beispiel versteht man heute etwas Zwischenmenschliches: einen romantischen Abend, einen romantischen Kuss. Vielleicht mal den Mond betrachten. Aber das war es auch schon.
Ihren politischen Beigeschmack hat die Romantik schon lange verloren. Dabei fühlten sich Dichter der englischen Romantik wie Percy Bysshe Shelley (1792-1822) oder Lord Byron (1788-1824) – siehe Lyrikübertragungen – den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet.
Shelley wurde 1811 aus dem Eton College in Oxford verwiesen – aufgrund seiner rebellischen Haltung, so die Collegeleitung. Der eigentliche Grund dürften allerdings zwei 1811 veröffentlichte Pamphlete gewesen sein: „The Necessity of Atheism“ (gemeinsam mit Thomas Jefferson Hogg) und der 2006 wiederentdeckte, aber wohl ebenfalls 1811 veröffentlichte „Poetical Essay on the Existing State of Things“. Darin wandte Shelley sich gegen Imperialismus, Krieg und Religion.
In zweiter Ehe war Shelley verheiratet mit Mary Wollstonecraft Godwin, der Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und William Godwins, der als Begründer des Sozialismus gilt. Ein radikales Umfeld. Dazu passt, dass Percy und Mary Shelley Skandale erregten, indem sie Flugblätter aus den Fenstern ihrer Hotelzimmer warfen.
Aufgrund seiner Affären betrachteten Lord Byrons Zeitgenossen ihn als Mann von zweifelhafter Moral. George Gordon, Lord Byron, war nicht nur Dichter und ein wichtiger Vertreter der englischen Romantik. 1823 schloss er sich dem Freiheitskampf der Griechen an, den er schon lange finanziell unterstützt hatte, starb jedoch am 19. April 1824 in Messolongi an einer Lungenentzündung.
Man darf nicht vergessen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge des Wiener Kongresses und der damit einhergehenden Restauration ganz Europa zu einem Polizeistaat geworden war. Vor diesem Hintergrund offenbaren die für den heutigen Leser so harmlos anmutenden Gedichte dieser Romantiker ihren subversiven Charakter.
Auch wenn es bei Shelley scheinbar um apolitische Gegebenheiten wie Naturerscheinungen oder Ähnliches geht, klingt darin die Frustration an der Politik der postnapoleonischen Ära an und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung.
In ihren Gedichten zeichnen diese englischen Romantiker ein Bild, das sie zum Schluss wieder zerstören. Hinter der Schönheit der lyrischen Sprache verbirgt sich oftmals ein bedrohliches Moment.
Shelleys „The Cloud“ (1820) zum Beispiel – „Die Wolke“ ist nicht nur ein malerisches Naturgedicht, sondern spiegelt auch perfekt den meteorologischen Wissensstand des 18. Jahrhunderts wider. Schon die Form der Ode, die in der Prosaübertragung leider verloren geht, deutet auf die Erhabenheit des Gegenstands hin. Der letzte Satz – „Ich stehe auf und reiße erneut alles ein“ – sollte zu denken geben. Heutzutage müsste ein vergleichbares Gedicht die Quantentheorie erklären. Ein Jahr zuvor, 1819, war Shelleys „Ode to the West Wind“ erschienen, Shelleys Ode an den Westwind, der die Ideale der amerikanischen Revolution nach Europa trägt.
Der Schlusssatz seines scheinbar so harmlosen Gedichts „Die Blume, die heute noch blüht“ – „träume – träum’ sanft wie ein Kind, das das Morgen nicht kennt!“ – erscheint so ebenfalls in einem völlig anderen Licht.