Oscar Wilde: Die Seele des Menschen im Sozialismus

oder die Tragödie des Oscar Wilde

von Alexander Amberg

Oscar Wilde, geboren am 16. Oktober 1854 in Dublin, der britische Ästhet des 19. Jahrhunderts, hegte nicht nur Sympathien für den Katholizismus, sondern auch für einen gemäßigten Sozialismus, wie sein Essay The Soul of Man under Socialism (1891) nahelegt. Ab 1879 lebte der Sohn eines Arztes und einer Dichterin in London. Als enfant terrible und kritischer Geist, der die Heuchelei und Doppelmoral der viktorianischen Gesellschaft offenlegte, bekam er deren vollen Haß zu spüren. Zum Verhängnis sollte ihm sein Verhältnis mit Lord Alfred Douglas werden. Wegen seiner homosexuellen Neigungen zerrte der Vater des jungen Lords, der Marquess of Queensbury (der übrigens auch die Regeln für den Boxsport festlegte), den Schöngeist Wilde im Jahr 1895 vor Gericht und zerstörte so die Karriere eines Genies. Neben all den unschönen Begleiterscheinungen eines derartigen Prozesses mußte Wilde das ungewöhnlich harte Urteil von zwei Jahren Zwangsarbeit, die Höchststrafe, über sich ergehen lassen. Körperlich gebrochen, finanziell ruiniert, von Frau und Kindern und auch den meisten seiner früheren Freunde verlassen, überlebte er seine Entlassung aus dem Gefängnis um nur wenige Jahre. Er starb am 30. November 1900 im Exil, beigesetzt wurde er auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.

Sein wohl bestes Theaterstück ist die Komödie The Importance of being Earnest (Uraufführung am 14. Februar 1895), zu deutsch: Ernst sein, eines seiner bekanntesten Lady Windermeres Fan (1891). Sein letztes bedeutendes Werk war The Ballad of Reading Gaol (1898), eine Ballade, die die unmenschliche Praxis des englischen Strafvollzugs anprangerte. Von großem Körperbau und noch größeren Talenten, hatte die Natur den Menschenfreund Wilde mit der vielleicht noch größeren Gabe ausgestattet, die Menschen für sich einzunehmen. Niemals mißbrauchte er sein Talent, stets blieb das Ideal der humanitas sein Leitbild. Obwohl er als berühmter Literat in die Geschichte einging, mußte er lange Jahre um seine Anerkennung kämpfen, und als er dieses Ziel endlich erreicht hatte, stand sein Ruin auch schon bevor. Da er nach dem Studium keine Anstellung fand, führten ihn zunächst ausgedehnte Vortragsreisen durch die USA und durch England. Er referierte über Kunst und Architektur, Inneneinrichtung und Mode. Von 1887 bis 1889 bestritt er seinen Lebensunterhalt als Redakteur des Magazins The Womans World, bevor sich sein Erfolg als Dramatiker einstellte. Auf der Höhe seines Ruhmes jedoch brachte ihn seine Liebe zu Fall. Alles in allem dauerte die Phase des Erfolgs nur wenige Jahre. Wilde hätte ohne weiteres die Chance gehabt, sich durch Flucht dem Prozeß und der drohenden Verurteilung zu entziehen, die letztlich sein Leben zerstörte. Seine Freunde drängten ihn dazu; aber sein Stolz und sein Mut und wohl auch sein irischer Starrsinn ließen ein derartiges Handeln nicht zu.

Seine Biographie enthüllt das Leben und Leiden eines im wahrsten Sinne des Wortes Zerrissenen. Wilde war ein Opfer der Gesellschaft und ein Opfer seiner Liebe zu dem rücksichtslosen Aristokraten Lord Alfred Douglas, kurz „Bosie“ genannt. Vielleicht war sein Fehler, daß er sich in der Rolle des Opfers gefiel und zum Zwecke seiner Selbstverwirklichung seine Familie im Stich ließ. Hatte der geistvolle Plauderer Wilde keinen Sinn für die Realität? Im Jahr 1898 machte er, schon im Pariser Exil, die Bekanntschaft Ferdinand Walsin-Esterhazys, des Mannes, der Alfred Dreyfus denunziert hatte. Während der unschuldige jüdische Hauptmann Dreyfus auf der Teufelsinsel schmorte, sprach am 11. Januar 1898 ein Militärgericht den Verleumder Esterhazy von jeder Schuld frei. Zwei Tage später veröffentlichte Emile Zola seinen berühmten Artikel Jaccuse .... Wildes Bewunderung für Esterhazy sollte ihn die Freundschaft mit Carlos Blacker kosten, der sich unermüdlich für Dreyfus einsetzte. Neben allem anderen schien Wilde ein Talent dafür zu entwickeln, seine Freunde vor den Kopf zu stoßen. Alles in allem jedoch bleibt nur eines zu sagen: Er hat mehr als genug gebüßt für Vergehen, die keine sind. Wurde jemals ein Mann zum Sündenbock abgestempelt, dann war es Oscar Wilde. Sein Grab schmückt ein Zitat aus The Ballad of Reading Gaol:

And alien tears will fill for him
Pity’s long-broken urn,
For his mourners will be outcast men,
And outcasts always mourn.[1]

Sein Werk hat ihn überlebt - wie er vorhersah. Großmut und Geist zeichneten diesen Menschen aus, einen amüsanten Plauderer, der das Pech hatte, hundert Jahre zu früh geboren zu werden. Kunst und gesellschaftliche Veränderung gehen bei Oscar Wilde Hand in Hand. Der Ästhet war zugleich Sozialist. Am deutlichsten wird dies vielleicht in seinem Essay The Soul of Man under Socialism. Seltsamerweise argumentiert er für den Sozialismus aus einem anscheinend trivialen Grund - weil es schön ist, zu tun und zu lassen, was man will. Es war jedoch kein Geringerer als Engels, der die Bedeutung des Egoismus als Antriebsfeder im Sozialismus hervorhob.[2] Oscar Wilde wandte sich gegen ein autoritäres System. Er trat dafür ein, Besitz, Familie, Ehe und Eifersucht abzuschaffen. Im Grunde ist er Vertreter eines anarchischen Weltbildes. Was die Kirche Sünde nennt, ist für ihn wesentliches Element des Fortschritts. Er predigte einen Individualismus, der geläufige Moralvorstellungen ablehnte und so zu einer neuen, höheren Ethik führen sollte. Die Theorie, die Wilde in seinen drei Essays Pen, Pencil and Poison, The Critic as Artist und The Soul of Man under Socialism ausführt, findet ihre Anwendung in The Picture of Dorian Gray (1891), dem faustischen Roman um einen Mann, der seine Jugend bewahrt, solange sein Bildnis für ihn altert.

Letztlich ist Oscar Wilde ein zutiefst subversiver Autor, ein Dissident, der die Liebe predigt. Das konnte ihm die viktorianische Gesellschaft nicht verzeihen. Mag sein, daß Gefängnis und Exil ihn brachen, ihm gar die Fähigkeit zu schreiben nahmen. Aber was er zu sagen hatte, hat er gesagt, ohne es zu widerrufen. Sein literarisches Testament ist De Profundis, im Gefängnis in Form eines Briefes an den Geliebten entstanden. Wie kein anderes Beispiel zeigt sein Leben, wie eng Kunst und Gesellschaft miteinander verflochten sind - und sei es im Negativen. Der Mann, der zwischen 1897 und 1900 unter dem Namen Sebastian Melmoth bettelnd und meist betrunken durch die Straßen der französischen Metropole zog, verdient vor allem eines: unsere Achtung.

 

[1]          Zitiert nach der immer noch besten Biographie: Richard Ellman, Oscar Wilde (London, 1987), p. 553.

[2]          Vgl. op. cit., pp. 309f.