Schamanismus – Cultural Clash als Verständnishindernis
von Alexander Amberg
Bereits einige Male begegneten wir in Zusammenhang mit dem Hexenwahn dem Begriff „Schamanismus“. Murray vermutet im mittelalterlichen Hexenwesen die Überreste eines prähistorischen Schamanenkultes. Wir sollten uns vor Augen führen, was es damit auf sich hat.
Die folgende Passage aus Brian Bates’ Roman über einen angelsächsischen Schamanen mag verdeutlichen, was wir uns unter einem schamanischen Ritus vorzustellen haben. The Way of Wyrd erzählt die Geschichte der Initiation des jungen Mönches Brand durch den Zauberer Wulf. Der Roman beginnt mit der Beschreibung eines Heilungszaubers:
„Ödländer, warum webst du deinen Spruch?“
Die Stimme des Zauberers erhob sich hinter weitaufgerissenen Fängen, als er sich wie ein riesiger Wolfsmensch über die kranke Frau beugte. Er sah furchterregend aus, wie er so dastand, in das Fell eines riesigen grauen Wolfes gehüllt, den Wolfsschädel auf dem Kopf, der ihn noch größer erscheinen ließ.
Das Haus der Geister war angefüllt mit der gesamten Einwohnerschaft der Siedlung [...] Die Leute saßen da, stumm wie die Ölgötzen. Der Feuerschein tanzte auf ihren Gesichtern. Innerhalb des Kreises, den Seile markierten, die zwischen in den Boden gerammten Pfählen gespannt waren, saß ich direkt neben dem Zauberer, mit trockenem Mund, ergriffen von der Präsenz heidnischer Mächte der Dunkelheit.
Feuerschein kroch über das Wolfsfell, glühte auf der Schlangenfibel am Hals des Zauberers und erweckte die goldgetriebenen Augen des Wolfes zum Leben. Langsam, vorsichtig ging der Zauberer vor der Frau in Angriffsstellung, krümmte den Rücken wie ein Wolf auf der Jagd. Die Frau saß nur da, ihr stämmiger Körper starr vor Furcht. Ihr Kopf hob und senkte sich, um den funkelnden Augen des Wolfsmannes auszuweichen. Sie senkte den Blick und starrte zu Boden, als hätte die Bodenstreu sie in Bann geschlagen. Im rauchigen Licht sah ich den grotesken Auswuchs auf ihrem Nasenrücken und das entzündete, aufgequollene Fleisch um ihr Auge.
Plötzlich heulte der Wolfmann auf, seine Stimme rauh vor Bewegung:
„Geist, warum wohnst du auf dem Gesicht dieser Frau? Du hast ihre Seele gestohlen und deine Wunden auf ihrem Gesicht zurückgelassen. Ohne ihre Seele stirbt diese Frau. Wo bist du jetzt? Wo versteckst du dich? [...] Als böse Krankheit bist du zu weit gereist. Du bist weit weg von zu Hause und du bist zu lange geblieben, um willkommen zu sein. Wo auch immer du dich versteckst: Ich werde dich finden!“
Für einen Moment kehrte Stille ein, nur durchbrochen vom Prasseln und Knacken des Feuers. Plötzlich, ohne Vorwarnung, riß der Zauberer sich das Wolfsfell vom Leib und kauerte sich neben der Frau auf den Boden, den Rücken gekrümmt und den Kopf zwischen die Knie gepreßt. Die Ellenbogen standen an den Seiten ab.
„Laß mich in Ruhe“, piepste er mit hoher, schriller Stimme.
Erstaunt warf ich einen verstohlenen Blick in die Runde. Ernste Gesichter sahen dem Geschehen zu und ich unterdrückte ein nervöses Lachen.
Der Zauberer warf sich wieder das Wolfsfell über.
„Dich in Ruhe lassen?“ grollte er [...] „Du verschwindest, zurück ins Land der Toten, wo Du hingehörst!“
Er warf das Fell ab und sprang zurück in seine gekrümmte Stellung.
„Was willst du mit mir machen?“ quiekte er, die ungeschlachte Gestalt spielend.
Der Wolfsmann sprang auf die Füße, seine Augen warfen Blitze, bevor sie unter dem Wolfsschädel verschwanden.
„Ich werde dich aufspüren“, heulte er.
Wieder starrte die verkrümmte Gestalt auf das leere Fell.
„Warum verfolgst du mich?“ quiekte sie. „Wer hat dich gerufen?“
„Mächtige Geister riefen mich, denn du bist eine Last. Du bist ein Ödlandbewohner und hältst dich auf, wo niemand dich will. Du bist eine Bedrohung, die man austreiben muß“, raunzte der Wolfsmann ihn an, mit großen Schritten den Kreis abschreitend. Das mächtige Wolfsfell schwang von einer Seite zur andern.
[...] In einer Methalle hätte das Spiel dröhnendes Gelächter erregt [...] Aber in dem von Rauchschwaden durchzogenen magischen Kreis begleitete die Handlungen der kalte Hauch der Gefahr.
Der Wolfsmann wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu. Er ging vor ihr in die Hocke, eine Hand verschwand unter dem Fell und kam zum Vorschein mit einem perlenbesetzten Lederriemen. Er gab ihn mir und deutete auf ihren Kopf. Ich rappelte mich auf und kniete mich hinter sie, um ihr langes Haar zurückzubinden. Ich hatte eine solche Aufgabe erwartet, denn obwohl mir derartige Rituale vollkommen fremd waren, saß ich doch innerhalb des magischen Kreises als Gehilfe des Zauberers. Aber plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, erschreckte mich und meine Hände zitterten wie die Glieder eines verängstigten Hasen. Das Haar der Frau fiel aus der Schlinge, bevor ich den Knoten festziehen konnte, und unter den Umstehenden entstand ungeduldige Bewegung. Sie rückten näher an die Seile heran, die den magischen Kreis markierten. Ich blinzelte mir den Schweiß aus den Augen und versuchte es noch einmal. Diesmal hielt der Knoten. Ich band ihr Haar zurück.
Wieder griff der Zauberer in die Wolfshaut, und dieses Mal zog er einen großen Leinenbeutel hervor, aus dem er ganze Hände voll stachliger Blätter herausholte, immer noch frisch und grün. Mit geübten Fingern faltete er sie zusammen, wand die Stiele ineinander und zerrieb sie zwischen den Handflächen. Ich hörte, wie er in einem merkwürdig hohen Ton etwas murmelte, so als sänge er vor ich hin.
„Kleines Geschwür, kleines Geschwür, du hast die Seele dieser Frau gestohlen. [...]“
Er tänzelte zu der Frau hinüber und legte den Kopf auf die Seite. Die glühenden Augen des Wolfsschädels glitzerten wissend. Dann sprach er den Geist an, in hohem, geschwätzigem Tonfall.
„Kleines Geschwür, du solltest nach Hause gehen ins Ödland, wo du dich wohlfühlst.“
Plötzlich warf er der Frau den Packen zerdrückter Blätter mitten ins Gesicht [...] Der Zauberer hockte sich auf die Fersen und drückte ihr die Blätter aufs Gesicht. Dabei hob er langsam den rechten Arm weit über den Kopf. Zig Augenpaare reflektierten den Feuerschein, als sie der leeren Hand folgten und zusahen, wie sich die weißen Finger über dem Fell spreizten. Plötzlich hielten sie einen großen Gegenstand. Ein Stöhnen ging durch die Dunkelheit und meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen; denn er hielt die mächtige Klaue eines Vogels umklammert. Drei riesige schwarze Adlerkrallen glühten bedrohlich im flackernden Zwielicht.
Der Zauberer bewegte die Klaue langsam auf das Gesicht der Frau zu. Sie mußte die Augen geöffnet haben, denn ich fühlte, wie sich ihr Nacken spannte, als sie versuchte, das sich nähernde Ding nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Sie begann zu zittern, und als der schreckliche Stumpf sie berührte, heulte und winselte sie wie ein kranker Hund. Während er ihr die Blätter mit der Adlerklaue fester aufs Gesicht drückte, begann der Wolfsmann, sich in einem seltsamen, kriechenden Tanz zu krümmen. Sein Körper wiegte sich langsam hin und her, ganz leise, und die Wolfsaugen starrten auf das Gesicht der Frau. Er intonerte einen geschwätzigen Singsang:
„Ich fange an zu singen,/ zu tanzen und zu ringen./ Mächtiger Geist, der du am Rand der Welt sitzt,/ in Adlerfedern gehüllt,/ Mächtiger Windschwinger,/ Hengst des Himmels,/ leihe mir deine Kraft,/ die Mittelerde durchdringt/ und die Angelegenheiten der Menschen.“
Seine Worte hallten in meinem Kopf wider wie eine gesungene Messe, und der Raum begann sich vor meinen Augen zu drehen. Die Stimme des Wolfsmannes verklang zu einem heiseren Flüstern:
„Meine Worte schwingen sich vom Adlergeist,/ dem scharfäugigen Händler des Todes .../ Unter seiner Klaue magst du welken,/ unter seiner Klaue sollst du vertrocknen und vergehn,/ wie ein Gerstenkorn unter dem Dreschflegel oder wie Wasser im Eimer./ Werde so klein wie das Korn des Leinsamens,/ Werde so klein, daß du gar nichts mehr bist.“
Leise, wie ein Gespenst, erschien an der Seite des Wolfsmannes eine ungeschlachte, warzenbesetzte Gestalt. Ich dachte, meine Augen spielten mir einen Streich, und schüttelte heftig den Kopf, um das Trugbild zu vertreiben. Aber die Gestalt blieb, weder rührte sie sich noch atmete sie. Sie starrte nur unverwandt auf den Wolfsmann. ...1
Hier haben wir quasi en miniature vor uns, was es mit dem Schamanismus auf sich hat. Der zunächst skeptische Erzähler, verkörpert in der Figur des jungen christlichen Mönches, fände das Rollenspiel des angelsächsischen Schamanen lächerlich, würde es sich in seinem eigenen kulturellen Umfeld abspielen. Doch in der fremden Umgebung der rauchgeschwängerten Hütte einer Siedlung im altangelsächsischen Urwald gewinnt es eine neue Dimension. Die Aura des Gefährlichen ist für den unmittelbar Beteiligten greifbar. Der aufgeklärte Leser weiß natürlich sofort, worum es sich handelt. Er teilt die Skepsis des Erzählers und ist bereit, die Handlungen des Schamanen als Hokuspokus und Taschenspielertricks abzutun, die der Zauberer geschickt und publikumswirksam inszeniert. Bis zu dem Zeitpunkt, wo tatsächlich die Gestalt des Geistes erscheint.
Wir haben es hier mit einer Fiktion zu tun, sicherlich. Aber sie verdeutlicht paradigmatisch das Zusammentreffen zweier Kulturen - unserer und der des Schamanen. Denn wer das Identifikationsangebot annimmt, das die Figur des skeptischen Mönches macht, der Mühe hat, die Ehrfurcht der Umstehenden ernstzunehmen, befindet sich schon mittendrin im kulturellen Aufeinanderprall. Paradigmatisch ist auch die Gestaltlosigkeit des Publikums dieser schamanischen Szenerie. Stumme Schatten, zum Zusehen verurteilt, die selbst nicht handeln. Ihr Schweigen mag für ihre Hilflosigkeit stehen, vielleicht auch für ihre Bedeutungslosigkeit im Lauf der Geschichte. Welchen aufgeklärten Europäer interessierte schon die Landbevölkerung des frühmittelalterlichen Britannien? Oder meinetwegen auch die Ureinwohner Neuseelands oder Australiens, die allenfalls als Statisten unumgänglicher Atomversuche ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?
So gesehen verrät uns die oben zitierte Passage vielleicht mehr über uns selbst, als wir gerne wahr hätten. Auch die Kranke, um deren Heilung es ja geht, gerät zum Objekt. Passiv und stumm harrt sie der Dinge, die da kommen mögen, voller Angst zwar, aber in ihr Schicksal ergeben.
Wir vermögen die Gedankengänge des Skeptikers nachzuvollziehen und den Zauberer als allenfalls zwiespältige Gestalt anzuerkennen. Vielleicht ringt er uns ein Schmunzeln ab, wie er mit seinem Hokuspokus die Menge in Bann schlägt. Vielleicht verurteilt ihn der eine oder andere auch aufgrund moralischer Prämissen als Scharlatan. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass dieser Zauberer unter Erfolgszwang steht. Die effektvolle Inszenierung seiner Handlungen bringt ihm die Ehrfurcht der Menge ein. Doch was, wenn er versagt? Als dem Gehilfen nicht auf Anhieb gelingen will, das Haar der Kranken zusammenzubinden, rücken die Umstehenden bedrohlich näher, und man bekommt eine Ahnung, was geschehen könnte, entpuppte sich der Schamane als Scharlatan. Seine soziale Anerkennung beruht auf der Fähigkeit, mit der Geisterwelt in Kontakt zu treten. Öffentlich inszeniert, wird das magische Ritual zum sozialen Ereignis, dessen Gelingen wiederum beiträgt zur Bestätigung eines Weltbildes. Schließlich, für den skeptischen Mönch unfassbar, geschieht das Unglaubliche: Der Geist erscheint ...
Die Fiktion braucht im 20. Jahrhundert die Personalisierung, um ein Bild vergangener Realitäten zu schaffen. Das will nicht heißen, dass im angelsächsischen Britannien warzenbesetzte, ungeschlachte Kobolde ihr Unwesen trieben. Es heißt lediglich, dass im angelsächsischen Britannien die Menschen an deren Treiben glaubten und sie infolgedessen auch sahen. Dies klingt weniger unglaublich, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Wahrnehmungskonzepte der altangelsächsischen und unserer heutigen Kultur grundsätzlich verschiedene sind. Uns trennen im wahrsten Sinne des Wortes Welten. Das folgende mag dies etwas verständlicher machen.
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Die Trennung von Ethnologie und Kirchengeschichte führte dazu, dass zum einen Theologen und Kirchenhistoriker ethnologische Erkenntnisse ignorierten, dass zum andern Ethnologen die Ergebnisse, die die Theologen vorzuweisen hatten, nicht zur Kenntnis nahmen. Lange Zeit erlagen wir dem Vorurteil der Aufklärung, bei den Berichten über Hexen und Zauberer handle es sich um Mythen und Auswüchse religiösen Wahns. Erst der Vergleich und das Überschreiten der eigenen Fachgrenzen führten zu der Einsicht: Im europäischen Mittelalter lebte eine prähistorische Religion weiter, eine Art Schamanenkult, deren Anhänger als Hexen verfolgt wurden.
Was sagte man diesen Hexen nicht alles nach! Angeblich konnten sie sich in Tiere verwandeln und sie hatten eine Salbe, mit der sie sich einrieben, bevor sie sich auf ihren Besen setzten und davonflogen. Kinderglauben! Fantasieprodukte! Einfach lächerlich!
Einfach lächerlich ist die Reaktion, Überlieferungen, die sich in wesentlichen Punkten überschneiden oder gleichen wie ein Ei dem anderen, einfach als Massenhysterie, Aberglauben oder Hexenwahn abzutun. Denn macht man sich die Mühe, die Berichte über Hexen und ihre Praktiken vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens über Schamanismus und schamanistische Religionen zu lesen, wird vieles erklärbar. Selbst Erzählungen über die Verwandlung von Menschen in Tiere - man denke nur an die Mär vom Werwolf - gewinnen an Glaubwürdigkeit, wenn man die Menschen, die uns zuerst davon berichteten, nicht als notorische Lügner abtut. Denn was die eifrigen Protokolleure der Hexenprozesse in das enge Korsett der theologischen Nomenklatur zu zwängen suchten, waren nicht allein die Hirngespinste gepeinigter Kreaturen, die auf der Folter jede Frage mit „Ja“ beantwortet hätten. Es stimmt, dass die Folter ein unmenschliches Instrument ist, das mit Wahrheitsfindung ungefähr so viel zu tun hat wie ein Vorschlaghammer mit Kindererziehung. Und auch Sie und ich würden, wenn der peinlichen Befragung ausgesetzt, wahrscheinlich auf jedem Fragebogen, den man uns vorlegte, überall das Gewünschte ankreuzen. Nicht von ungefähr war es die Abschaffung der Folter, mit der auch die Hexenprozesse endeten. Denn die Abschaffung der Folter ist letztlich ein Verdienst der Aufklärung.
Die Aufklärung aber entspringt einem dem Mittelalter gegenüber gewandelten Weltbild. Es war also die Aufklärung, die die Scheiterhaufen verlöschen ließ. Dieses Verdienst kann man nicht hoch genug ansetzen. Das heißt jedoch nicht, dass nicht irgendwo ein Fünkchen Wahrheit verborgen ist in den Aussagen zahlloser Gemarterter. Wohlgemerkt, das rechtfertigt kein Pogrom und tut der Trauer um die sinnlos Gemordeten keinen Abbruch. Wenn wir hier den Versuch unternehmen, einen Schleier zu lüften, der jahrhundertelang das tatsächliche Geschehen verhüllte, bedeutet das nicht das stillschweigende Einverständnis mit den Henkern. Im Gegenteil! Damit neigen wir das Haupt vor den Opfern.
Deren Weltbild gilt es zu berücksichtigen, will man ihre Aussagen nicht allesamt als erzwungene Lügen auffassen. Jedes Geständnis unter der Folter ist erpresst und zweifellos waren eine Menge Unwahrheiten dabei, die den Inquisitor oder Folterknecht zufriedenstellen sollten. Was aber ist mit den massenhaften Selbstbezichtigungen, die aktenkundig sind? - Hysterie? Wahnsinn? Diese Erklärung liefert Hansen.2 Genügt uns das? Mitnichten.
Die Verwandlung eines Menschen in ein Tier ist für uns am Ausgang des 20. Jahrhunderts unvorstellbar. Für den Menschen des Mittelalters war sie Realität. Sie war Realität, weil das Weltbild noch mythisch geprägt war. Die Menschen damals dachten anders als wir. Man muss nicht Schopenhauer bemühen, um zu erkennen, wie sehr die Welt aus Wille und Vorstellung besteht. Ein letzter Rest mythischen, magischen Denkens hat sich in der katholischen Kirche erhalten. Während der Messe wandelt der Priester Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Obwohl jeder sich davon überzeugen könnte, dass auch nach der Wandlung noch Wein im Kelch ist, nimmt der Katholik ihn als Blut seines Gottes hin. Diese Transsubstantation ist das Geheimnis, auf dem in der katholischen Kirche die herausragende Stellung des Priesters beruht. Schon zur Zeit der Reformation hegte man ein gehöriges Misstrauen gegenüber solchen Auffassungen und degradierte das Mysterium der Wandlung, einen letztlich magischen Akt, zur lediglich symbolischen Handlung, als die sie in evangelischen Kirchen vollzogen wird.
Dem einen oder anderen mag das als Haarspalterei erscheinen. Doch wurden darum Kriege geführt und Menschen getötet. Wir sehen: Hier geht es um Glaubensfragen. Glaubensfragen sind aber nur zu verstehen, wenn man sie auf die Denkweise zurückführt, der sie entspringen.
Das Mittelalter war eine dunkle Zeit - im wahrsten Sinne des Wortes. Es gab kein elektrisches Licht im Haus, keine Straßenbeleuchtung, keinen Fernseher. Die Nacht war Nacht, nichts als undurchdringliches Dunkel, manchmal erhellt vom Mond und den Sternen, ansonsten aber schwarz. Diese dunkle Nacht war bevölkert von Heerscharen von Dämonen, die ihr Unwesen trieben. Diese Wesen waren Realität, genauso wie für ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet, der schwarze Mann Realität sein mag. Nur gab es im Gegensatz zu unserem Kind niemanden, der hereinkam, das Licht anmachte und einen tröstete, den schwarzen Mann gäbe es gar nicht. Also musste man sich anders arrangieren. Dazu dienten magische Handlungen und Rituale.
Legte ein Schamane sich das Fell eines Tieres um die Schultern und benahm sich entsprechend, war er für die Anwesenden dieses Tier. Er hatte dessen Gestalt angenommen, sich verwandelt. Dass bei derartigen Sessions Drogen eine Rolle spielten, kann man sich unschwer vorstellen.
Margret A. Murray zum Beispiel führt einen Fall aus Neuengland an, bei dem ein Mann im Wald beobachtete, wie drei weiße Frauen und zwei Wesen, die er zunächst für Indianer hielt, zusammen tanzten. Doch als er entdeckt wurde, flohen die Frauen, und er musste feststellen, dass die beiden Wesen, die er für Indianer gehalten hatte, Dämonen waren, die ihn verfolgten. Glücklicherweise entkam er. Fazit: Unser guter Mann war Zeuge eines Hexensabbats geworden und nur mit knapper Not den Nachstellungen teuflischer Dämonen entgangen.
Wirklich? So stellte es sich ihm jedenfalls dar. Wie kam es dazu?
Unser Neuengländer geht im Wald spazieren (oder was auch immer er dort zu suchen hatte). Er sieht mehrere Gestalten, die er nicht sogleich einordnen kann, und kramt in seinem Erfahrungsschatz, um sie zu identifizieren. Die Frauen erkennt er als Frauen. Die beiden anderen hält er zunächst für Indianer. Warum? Das sagt er nicht. Trugen sie vielleicht einen Kopfschmuck, den er schon bei Indianern gesehen hatte, mit Federn oder sagen wir: mit Hörnern wie bei Sitting Bull?
Dann aber wird ihm klar, dass es sich gar nicht um Indianer handelt. Also muss es etwas anderes sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft (und nicht nur dort) das Rollenverhalten genau definiert ist. Noch im 17. Jahrhundert, dem unser Beobachter entstammt, war alles genau festgelegt, auch die Art der Kleidung, die man trug. Eine Frau war auch aus größerer Distanz äußerlich sofort als Frau zu erkennen, ebenso ein Mann - vorausgesetzt, sie verhielten sich ihrer gesellschaftlich sanktionierten Rolle gemäß. Dazu gehörte eben die dem Stand angemessene Kleidung.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass unser Beobachter nicht von vornherein drei Frauen und zwei Männer sieht, sondern drei Frauen und zwei Wesen, die er für Indianer hält. Damit macht er also die Reihe Frau - Mann - Indianer auf. Dass dies Rassismus hoch drei bedeutet, muss nicht weiter betont werden. Aber weiter: Nach seiner Entdeckung verfolgen ihn die Wesen. Er sieht, dass es keine Indianer sind. Was bleibt dann noch übrig?
Nachdem er in seiner gesellschaftlich vorgegebenen Vorstellungswelt gekramt hatte und das erste Ergebnis verwerfen musste, bleibt nur noch die Möglichkeit, das Ganze in eine andere, ebenfalls vorgegebene Terminologie zu verpacken. Das Ungewöhnliche heißt jetzt nicht mehr „Frauen und Indianer“, sondern „Hexen und Dämonen“. Zu dem naheliegenden Schluss, dass es sich um zwei maskierte Männer handeln musste, kam unser Beobachter nicht. Wie denn auch? Sein Erfahrungsschatz gab das nicht her. Schon die Indianer konnte er nicht als Männer bezeichnen, weil sie seiner Gesellschaft und deren normiertem Rollenverhalten fremd waren. Damit erweist er sich als Kind seiner Zeit. Aber um wie viel weniger war es ihm möglich, die unbekannten Maskierten, die keine Indianer waren, einzuordnen. Das Irrationale war in seine Welt eingebrochen und damit hatte sich die Kirche zu befassen. Also war klar: Höllische Dämonen waren ihm auf den Fersen.
Während ein Ethnologe unserer Zeit, der zufällig auf die Veranstaltung getroffen wäre, begeistert konstatiert hätte, einem schamanistischen Ritus beigewohnt zu haben, stand für den Neuengländer des 17. Jahrhunderts fest: Er war Zeuge eines Hexensabbats geworden.
Zweifellos waren die Anhänger einer solchen Religion noch viel eher bereit, die Wandlung des Schamanen als tatsächlich und nicht nur symbolisch hinzunehmen. Wir haben es hier keinesfalls mit Fantasieprodukten zu tun, sondern mit Aussagen, die wir erst übersetzen müssen, und zwar von einem kulturellen Umfeld in ein anderes, nämlich vom Gedankengut des Mittelalters in die Sprache des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Berichte über Tierverwandlungen und Flugerlebnisse verlieren so den Charakter des Unglaubwürdigen. Arne Runeberg formulierte das schon 1947 folgendermaßen:
The witches’ power to transform themselves into animals thus loses its fantastical character if we assume that they, like primitive magicians in other parts of the world, used to disguise themselves in animals’ skins and induce in themselves a state of ecstasy by means of narcotic ointments or potions.3
Ekstase dürfte eine wesentliche Rolle gespielt haben bei derartigen Ritualen, Ekstase verursacht durch Narkotika, verabreicht in Form von Getränken - oder als Salbe.
Ludwig Mejer stellte in seinem Buch Die Periode der Hexenprocesse schon 1882 die These auf, dass Rauschmittel in Verbindung mit dem Hexenglauben gebracht werden können. Seiner Meinung nach führen Krisenzeiten zum vermehrten Drogenkonsum. Für die Hochzeit der Hexenprozesse kamen die kulturell zugelassenen Mittel wie Wein und Bier nicht infrage, da sie für die unteren Bevölkerungsschichten viel zu teuer waren. Der Import des Stechapfels aus Indien durch „Zigeuner“ lieferte eine billige, jedermann zugängliche Droge, deren Wirkungsbild dem entspricht, was einige Hexen berichten (Hexenflug).
Für den Gebrauch von Hexensalben sprechen die Berichte Goedelmanns in seinem ‘Tractatus de magis’ von 1591 oder die Rezepte, die Stanislas de Guaita und Hieronymus Cardanus beschreiben. Letzterer liefert ein Beispiel für die Herstellung einer Hexensalbe:
... nehme man Samen von Taumellolch, Bilsenkraut, Schierling, roten und schwarzen Mohn, Portulak, jeweils vier Anteile, und einen Teil Tollkirsche. Aus diesen Samen bereite man ein Oel, von dem je 28g mit 1,2g Opium gemischt werden.4
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Als die Positivisten des 19. Jahrhunderts sich der Geschichte der Hexenverfolgungen bemächtigten, sprachen sie zugleich das Verdikt über die alte Religion. Denn mit der Überheblichkeit des aufgeklärten Aufklärers hoben sie den Zeigefinger, um mitleidig über Berichte von Chronisten und Zeitzeugen zu lächeln. Gleichwohl sammelten sie diese akribisch. Warum?
Um sich selbst ihrer eigenen Überlegenheit zu vergewissern? Der oben zitierte Arne Runeberg geht zwar über Positivisten wie Hansen5 oder Soldan-Heppe6 hinaus, indem er vergleichend arbeitet und interpretiert. Doch ist auch er nicht ganz frei von Überheblichkeitsanwandlungen:
The witches’ power to transform themselves into animals thus loses its fantastical character if we assume that they, like primitive magicians in other parts of the world, used to disguise themselves in animals’ skins ...
„like primitive magicians“ - wie primitive Magier! Spricht das nicht Bände? Wer wird uns eines Tages als primitiv bezeichnen? An späterer Stelle spricht Runeberg (ebenso wie auch M.A. Murray) von „higher forms of civilization“.7 Wer sind denn diese höheren Arten der Zivilisation? Doch nicht etwa Runebergs Gesellschaft? Oder gar unsere? Runebergs Arbeit erschien nur zwei Jahre, nachdem der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war und Tod und Zerstörung über das gesamte Europa und weit darüber hinaus gebracht hatte.
„higher forms of civilization“ - das impliziert die Vorstellung eines kulturellen Gefälles zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wir als die Klügeren stehen über den Dummen des Mittelalters, die doch unsere Vorväter sind. In der Pose des Besserwissers beschwören wir den Glauben an den Fortschritt, der uns doch lediglich so nette technische Neuerungen wie die Kernspaltung oder Tierversuche bescherte. Der unselige Zeitgeist machte Leute wie Murray oder Runeberg glauben, es gäbe dieses kulturelle Gefälle zwischen heute und früher. Dabei unterscheiden wir uns in unserer Technikgläubigkeit doch um keinen Deut von dem mittelalterlichen Bauern, der eine Hexe am Werk sah, wenn seine beste Kuh auf einmal keine Milch mehr gab. Die Dämonen, vor denen wir in abergläubischer Angst erstarren, heißen vielleicht nicht mehr Satan und Astaroth, sondern Krebs und Aids. Aber wo ist der Unterschied?
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1 Brian Bates, The Way of Wyrd, Tales of an Anglo-Saxon Sorcerer (London, 1983), pp. 17ff.
2 Hansen, Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozess im Mittelalter.
3 Arne Runeberg, „Witches, Demons and Fertility Magic, Analysis of Their Significance and Mutual Relations in West-European Folk Religion“, 4. pp. 1-273, in: Commentationes Humanarum Litterarum, Tomus XIV.4 (Helsingfors, 1947), p. III.
4 Achim R. Baumgarten, Hexenwahn und Hexenverfolgung im Naheraum. Ein Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte.
5 Joseph Hansen, Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozess im Mittelalter; ders., Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns.
6 Soldan-Heppe, Geschichte der Hexenprozesse (1880).
7 Runeberg, „Witches, Demons and Fertility Magic, ...“, p. 3 u.ö.