Daniel war ein Tüftler. Und ein Träumer. Oft, wenn er eigentlich seine Schulaufgaben machen sollte, saß er an seinem Schreibtisch und blickte gedankenverloren vor sich hin. Manchmal spielte nach einer Weile ein Lächeln um seine Lippen, und wer ihn kannte, wusste, dass er wieder einmal ein besonders schwieriges Problem gelöst hatte. Seinem Vater, der sich mit dem Computer nicht auskannte, erklärte er, wie man mit dem neuen Programm zurechtkam, und als eines Morgens die Kaffeemaschine streikte, fand er innerhalb von zwei Minuten heraus, welcher Draht im Innern locker war und reparierte ihn, sodass es noch nicht einmal eine Verzögerung beim Frühstück gab. Oft sah man Daniel beim Tüfteln, aber noch öfter träumte er; aber das konnte man nicht immer sehen. Natürlich war Daniel auch derjenige, der für die Verkabelung der Kerzen am Weihnachtsbaum sorgte, und wenn etwas nicht auf Anhieb klappte, hatte er es doch gleich im Griff. Nur eines bereitete ihm Sorge. Immer öfter klagte seine Mutter über die Geldknappheit im Haus, und das hatte seinen Grund: Seit ein paar Wochen war sein Vater nämlich arbeitslos.

„Hätten wir doch nur ein bisschen Glück“, hörte er seine Mutter sagen, und er fragte sich, ob Glück etwas mit Geld zu tun hatte. Am Heiligen Abend machte er sich diese Gedanken allerdings nicht, denn da hatte er anderes im Kopf. Sehnsüchtig wartete er auf die Bescherung und den Elektronikbaukasten, den er von seiner Großmutter bekommen würde.

Als am Baum die Lichter brannten, war er zunächst etwas enttäuscht, weil die Maße der Päckchen und Pakete, die er begutachtete, nicht ganz mit denen seines Wunschtraumes übereinstimmten. Aber dann sah er ihn doch, ganz hinten in der Ecke unter dem Christbaum, fast verdeckt von den mit bunten Kugeln und Lametta behängten Zweigen, und vor Freude tat sein Herz vielleicht sogar einen kleinen Sprung, wer weiß? Für den Rest des Abends war Daniel damit beschäftigt, die Einzelteile seines neuen Baukastens zu untersuchen, die Gebrauchsanweisung zu studieren und hin und wieder etwas Gebäck zu naschen. Als es Zeit wurde, schlafen zu gehen, wollte er protestieren. Aber sein Vater sah ihn nur ernst an und Daniel tat, was der Klügere immer tun sollte. Er gab nach und ging, ohne zu murren, ins Bett. Natürlich träumte er von seinem Elektronikbaukasten.

Er hatte schon eine Weile geschlafen, als ein Geräusch ihn weckte. Es kam aus dem Wohnzimmer. Er konnte zwar nicht sagen, was es war, aber er war sofort hellwach. Er stand auf, zog seine Hausschuhe an und schlich vorsichtig über den Flur. Aus dem Wohnzimmer hörte er ein leises Wispern und Pispern. Langsam drückte er die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Schlagartig verstummten die seltsamen Geräusche. Licht brauchte Daniel nicht zu machen, denn jemand hatte vergessen, die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum zu löschen. Trotzdem wunderte sich Daniel. Sein Vater, der immer als Letzter schlafen ging, hatte noch nie vergessen, die Lichter zu löschen. Noch nicht einmal die Stand-by-Schaltung des Fernsehers ließ er an.

Da er schon einmal hier war, setzte er sich auf den Teppich und bewunderte noch einmal die Teile seines Elektronikbaukastens. Nach einer Weile nahm sein Gesicht einen träumerischen Ausdruck an, dann aber runzelte Daniel die Stirn, und seine Miene wurde immer besorgter. Er seufzte. War es denn richtig, dass er sich hier seinen Schätzen widmete, während seine Eltern sich plagten, um über die Runden zu kommen? Ein leises „Psst!“ riß ihn aus seinen Gedanken. Daniel drehte sich um, aber da war niemand. Verwundert schüttelte er den Kopf und wollte sich eben wieder dem Baukasten widmen, als er es wieder hörte: „Psst!“ Noch einmal drehte er sich um, und wieder sah er nichts. Dafür erscholl das „Psst!“ jetzt etwas lauter. Ganz deutlich konnte er es hören, und eine leise Stimme rief: „He, du da. Psst! Hast du Tomaten auf den Augen? Hier oben bin ich!“

Daniel blickte hoch und sah ein kleines Männchen, das direkt unter der silbernen Spitze auf einem Zweig des Weihnachtsbaums stand. Geschickt klammerte es sich an die Aufhängung einer cognacfarbenen Kugel, griff nach dem Kabel, das die elektrischen Lichter mit Strom versorgte, und rutschte daran herunter, bis es auf einem Zweig landete, der direkt vor Daniels Nasenspitze hing.

„Hallo“, sagte der Wicht. „Was machst du denn für ein Gesicht?“

„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll“, sagte Daniel und sah das Männchen aus großen Augen an.

„Jetzt sieh sich einer den an!“, sagte das Männchen und rieb dabei seine Knollennase. „Es ist doch Weihnachten!“

„Ja, schon!“, antwortete Daniel, und dann sprudelte es nur so aus ihm heraus. Er erzählte dem seltsamen Besucher alles, was ihn bedrückte. „Weißt du, ob Glück etwas mit Geld zu tun hat?“, schloss er seinen Bericht.

„Aber natürlich!“, sagte das Männchen und nickte dabei so heftig, dass es beinahe von seinem Zweig gefallen wäre. „Natürlich hat Glück etwas mit Geld zu tun. Sehr viel sogar!“

„Ach, hör’ doch auf zu schwindeln, Johann“, piepste ein feines Stimmchen. Es war die Rauschgoldprinzessin, die ganz oben in den Zweigen hing. Daniel hatte sie selbst dorthin gehängt. Aber als er nach oben sah, balancierte sie elegant auf dem Rücken des Marzipanpferdchens, das vor Freude wieherte.

„Du bist vielleicht naiv, Smyrna“, polterte der Honigkuchenmann, der mit ungelenken Bewegungen versuchte, am Stamm des Weihnachtsbaums herabzuklettern. „Natürlich hat Glück etwas mit Geld zu tun. Ich zum Beispiel stamme aus einer Bäckerei, in der der Meister immer ganz glücklich gelächelt hat, wenn er abends das Geld aus der Ladenkasse genommen und in seine Kassette eingeschlossen hat.“

Die Rauschgoldprinzessin schwieg beleidigt und trippelte zu einer in dunklem Rot schimmernden Weihnachtskugel, um durch den Kontrast ihr Kleidchen besser zur Geltung zu bringen.

„Geld allein macht nicht glücklich“, mischte der Nussknacker sich ein, „krack, krack.“ Im ganzen Weihnachtsbaum wisperte und pisperte es. Verwirrt schaute Daniel vom einen zum andern. Etwas zupfte ihn am Ärmel. Es war Johann, das knollennasige Männchen, das ihn zuerst angesprochen hatte.

„Lass sie nur reden“, sagte der Wicht. „Ich verrate dir nämlich ein Geheimnis! Weißt du, wie man einen zuverlässigen Zufallsgenerator baut?“

Daniel sagte „nein“ und schüttelte den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht; denn sonst hättest du keine Sorgen.“ Damit beugte sich das Männchen auf seinem Zweig nach vorn und flüsterte Daniel etwas ins Ohr.

Daniel machte große Augen: „... die Lottozahlen?!“

„Ganz recht“, nickte das Männchen und hüpfte von seinem Zweig herab. Zusammen mit Daniel machte es sich an den elektronischen Bauteilen zu schaffen, und nach einer Weile hatten sie ein Gerät zusammengebaut, an dem rote und grüne Dioden blinkten und das jedes Mal piepte, wenn es eine Zahl anzeigte. „Fertig!“, sagte das Männchen. „Du musst nur diesen Knopf hier drücken und die Zahlen aufschreiben, die der zuverlässige Zufallsgenerator ausgerechnet hat. Dann füllst du einen Lottoschein aus ... - du weißt doch, wie man das macht?“ Misstrauisch sah das Männchen Daniel an.

„Klar“, schwindelte Daniel.

„Gut“, sagte der Wicht. „Also: Du füllst einen Lottoschein aus, gibst ihn ab und wartest auf deinen Gewinn.“

„Und das funktioniert?“, fragte Daniel.

„Aber sicher“, kicherte das Männchen. „Es funktioniert immer.“

„Lass dich nicht darauf ein!“, piepste die Rauschgoldprinzessin, und im Weihnachtsbaum wurde es mit einem Schlag still.

„Tu’s nicht, krack, krack“, mahnte auch der Nussknacker; aber das Männchen sagte nur „Papperlapapp“ und Daniel probierte die Maschine aus.

 

Es wurde das längste und langweiligste Weihnachtsfest seines Lebens. Er verbrachte die Feiertage damit zu warten, bis sie vorüber waren, und zählte unterdessen immer wieder sein Taschengeld, ob es auch ausreichte für einen Lottoschein. Es reichte. An dem Kiosk, an dem er für seinen Vater immer die Zeitung holte, ließ er sich zeigen, wie man einen Lottoschein ausfüllte. Er füllte ihn aus, gab ihn ab und wartete. Und wartete. Und wartete. Die Tage vergingen ihm viel zu langsam und ihm war schon ganz langweilig vor lauter Warten. Er hatte keine Lust mehr zu spielen, und auch sein neuer Baukasten interessierte ihn fast gar nicht mehr. Nur mit dem zuverlässigen Zufallsgenerator beschäftigte er sich ab und zu; aber nachdem er die Lottozahlen für die nächsten beiden Jahre im voraus ausgerechnet hatte, ließ er auch das bleiben. Seine Eltern begannen, sich um ihn zu sorgen, und er hörte seine Mutter zu seinem Vater sagen: „Ich würde vieles geben, um herauszufinden, was er hat.“ Seine Eltern versuchten ihn aufzumuntern, so gut sie konnten. Aber es nützte nichts - bis zum Samstagabend, als im Fernsehen die Lottozahlen kamen.

Trotz des Protestes seiner Mutter durfte Daniel ausnahmsweise länger aufbleiben, weil sein Vater sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Aufgeregt wartete Daniel auf die Ziehung. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, als die Kugeln rollten, doch ... Doch freuen konnte er sich nicht. Denn er kannte ja das Ergebnis; und als er seinen erstaunten Eltern erklärte, dass er soeben einen Sechser im Lotto hatte, sagte sein Vater nur „Oh Gott“ und seine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Dann fing sein Vater an zu tanzen. Er schnappte Daniels Mutter und wirbelte sie durch den Raum, alle drei lachten und waren glücklich, aber nur für einen Moment, denn dann ... Dann fingen die Sorgen an.

„Was machen wir mit dem vielen Geld?“, fragte Daniels Mutter, und sein Vater kratzte sich am Kinn und meinte, das Beste wäre, es auf die Bank zu bringen.

„Wir müssen es irgendwie anlegen“, sagte Daniels Mutter, und Daniels Vater sagte: „Ja, aber wie?“

„Was ist, wenn es gestohlen wird“, gab Daniels Mutter zu bedenken, und alle machten eine sorgenvolle Miene. Auch Daniel machte sich Sorgen, und nachts wälzte er sich unruhig in seinem Bett hin und her und stöhnte dabei, bis ...

... bis eine Hand ihn wachrüttelte und eine tiefe Stimme sagte: „Was machst du denn unter dem Weihnachtsbaum? Sag’ bloß, du hast die ganze Nacht hier geschlafen?“

Verwirrt sah Daniel sich um. „Welchen Tag haben wir heute?“, fragte er seinen Vater.

„Na, Weihnachten“, antwortete der.

„Ich habe geträumt“, murmelte Daniel, „nur geträumt.“

Ganz oben am Weihnachtsbaum hing die Rauschgoldprinzessin, daneben das Marzipanpferdchen und etwas tiefer der Honigkuchenmann. Auf der anderen Seite, fast verborgen hinter den dichten Zweigen der Tanne, sah Daniel den Nussknacker und dachte noch einmal an dessen Worte „Geld allein macht nicht glücklich“. Nur Johann, diesen Wicht, sah er nirgends. Auf dem Teppich verstreut lagen die Einzelteile des Elektronikbaukastens. Einige davon waren zu einer komplizierten Konstruktion zusammengesetzt.

„Na, was hast du denn geträumt, Sportsfreund?“, fragte sein Vater, und Daniel erzählte ihm alles.

„Weißt du“, sagte sein Vater, als Daniel geendet hatte, und legte den Arm um seinen Sohn. „Der Nussknacker hat recht. Geld ist nützlich, aber es macht nicht glücklich. In zwei Wochen werde ich mich bei einer neuen Firma vorstellen. Wenn es klappt, dass ich dort Arbeit finde - das ist Glück. Drück’ mir also die Daumen. Aber um glücklich zu sein, brauche ich mehr. Ich brauche dazu dich und deine Mutter.“

Daniel drückte seinem Vater die Daumen - ganz fest, und wer weiß, vielleicht hat es etwas genützt. Auf jeden Fall wusste Daniel jetzt, dass Glücklichsein etwas anderes ist, als Glück zu haben.

Alexander Amberg