Ali heulte seit drei Monaten. Das langgezogene Röhren durchschnitt die abendliche Stille wie das Tuten eines Nebelhorns. „Du musst etwas tun, Papa!“, drängte Svenja und hüpfte von einem Bein auf das andere, während sie sich an Scherrers Arm hängte.

„Was ist mit ihm?“, fragte Scherrer den Tierarzt. „Sie sagten doch, das Bein sei verheilt.“ Ali würde zwar nie mehr ein Wettrennen gewinnen, aber wenigstens konnte er wieder stehen. Die letzten Wochen hatte er zum größten Teil liegend verbracht, alle viere von sich gestreckt, wenigstens soweit das bei einem Kamel möglich war. An seinem ununterbrochenen Heulen hatte sich niemand gestört, weil Scherrers Wiese, auf die der Lkw Ali damals gekippt hatte, weit außerhalb lag. Niemand, bis auf den Pflederer. Der Pflederer war Fleischermeister und machte das beste Bratwurstfüllsel von Mägerkingen. Nebenher betrieb er etwas Landwirtschaft. Ihm gehörte der Schuppen direkt neben Scherrers Wiese.

„Ja, sicherlich“, sagte Dr. Lenz und kratzte sich dabei hinterm Ohr, „das Bein ist verheilt. Große Sprünge wird er damit nicht mehr machen. Aber eigentlich dürfte er keine Schmerzen mehr haben.“ Wie um die Worte des Tierarztes zu widerlegen, röhrte Ali von neuem los. Scherrer hatte Mühe, Svenja festzuhalten, die sofort zu dem Kamel laufen wollte, um es zu trösten.

„Andererseits“, sagte Dr. Lenz, „habe ich bislang mehr mit Rindern, Schweinen und Hunden zu tun gehabt als mit Kamelen. Ich denke, ich werde einen Kollegen zu Rate ziehen.“

Ali heulte aus Leibeskräften, sodass das Motorengeräusch, das immer näher kam, kaum zu hören war. Scherrer und Dr. Lenz wandten sich erst um, als eine Tür klappte und eine tiefe Stimme lospolterte: „Gebt dem Vieh doch eine Spritze, damit endlich Ruhe ist!“

Ein untersetzter, rotgesichtiger Mann mit kleinen Schweinsäuglein und einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck stand vor den beiden, die Hände in die Hüften gestemmt - der Pflederer. „Erlösen Sie das arme Vieh von seinen Qualen, Herr Doktor,“ sagte er, und mit einem boshaften Seitenblick auf Scherrer fügte er hinzu: „Ich werd’ Sie anzeigen. Der Lärm ist ja nicht zum Aushalten.“ Sprach ’s, wandte sich um und machte sich an der Tür des Viehtransporters zu schaffen, der an der Anhängerkupplung seines Zweihunderter Diesels hing. „Macht’s mit dem wie mit der da,“ polterte er. Dabei blickte er abwechselnd auf Ali und den alten Ackergaul, der sich sträubte, rückwärts aus dem Viehanhänger zu kommen. Das Tier gehorchte jedoch ohne weiteres Widerstreben, als der Pflederer die Hand hob, in der er plötzlich einen dicken Prügel hielt.

„Nein!“, rief Svenja und wollte sich dazwischenwerfen. Scherrer erwischte sie gerade noch am Kragen.

„Die Rosi ist zu nichts mehr zu gebrauchen“, lachte der Pflederer. „Frisst nur noch und bringt nichts mehr ein. Der Huber hat mir den Gaul in Pension gegeben“, sagte er grinsend. „Aber nur für die nächsten acht Tage, bis der Abdecker kommt. Das Vieh ist zu alt zum Arbeiten - und eine ordentliche Wurst kann man daraus auch nicht mehr machen“, fügte er fast bedauernd hinzu. Dabei ließ er den Prügel auf das Pferd niedersausen, das vor Schreck und Schmerz laut aufwieherte.

„Lassen Sie das sein!“ fuhr Dr. Lenz den Pflederer an, und zwar in einem Ton, den man dem schmächtigen Mann kaum zugetraut hätte.

„Und wer, bitte schön, sollte mir das verbieten?“ Kampflustig baute der Pflederer sich vor dem Tierarzt auf.

„Niemand will Ihnen irgendetwas verbieten“, sagte Dr. Lenz, „am allerwenigsten ich. Ich bitte Sie nur darum - wegen des Kindes“ - dabei wies er mit einem Nicken auf Svenja - „und weil bald Weihnachten ist.“

Der Pflederer brummte etwas, das niemand verstand, wandte sich missmutig um und zog das Pferd am Zügel hinter sich her zum Schuppen. Ali röhrte aus vollem Hals. „Ich werd’ dich anzeigen“, grummelte der Pflederer, bevor er in seinem Schuppen verschwand.

„Er darf das Pferd nicht umbringen“, jammerte Svenja und klammerte sich an Scherrers Arm. „Er darf es nicht umbringen, Papa.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wie sollte Scherrer seiner Tochter erklären, dass der Pflederer eben das durfte. Der Mann war im Recht. Während Ali aus Leibeskräften vor sich hin röhrte und Svenja laut schluchzte, kam der Pflederer fluchend aus dem Schuppen zurück, ging an ihnen vorbei und startete den Diesel.

„Ich werde noch heute einen Kollegen konsultieren“, sagte Dr. Lenz zum zweiten Mal, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte, und drückte Scherrer die Hand. „Versprochen!“ Dabei blickte er Svenja in die Augen.

„Komm!“, sagte Scherrer zu seiner Tochter, und sie fuhren nach Hause. Es war der 23. Dezember.

*

„Wo ist eigentlich Svenja?“, fragte Scherrer, als er am nächsten Morgen am Frühstückstisch saß. Seine Frau ließ die Zeitung sinken und sah ihn einen Moment lang an.

„Ich glaube, sie wollte rausfahren, um nach Ali zu sehen. Auf jeden Fall ist sie gleich heute morgen mit dem Fahrrad weggefahren.“

Hätte ich damals doch nicht Ja gesagt, als diese Zirkusleute mich fragten, ob sie Ali bei mir abladen dürfen, dachte Scherrer. Sie hatten das Tier im wahrsten Sinne des Wortes abgeladen, eine einzige Quälerei war das gewesen mit dem gebrochenen Bein, und jetzt ...

Ein heftiges Klingeln riss Scherrer aus seinen Gedanken. Es läutete geradezu Sturm. Die Tür flog auf und Svenja stürmte ins Esszimmer. Ohne sich mit den Formalitäten einer Begrüßung aufzuhalten, hängte sie sich an ihren Vater und brachte, noch völlig außer Atem, hervor: „Ali hat aufgehört zu weinen.“

Scherrer sah seine Tochter ungläubig an. Wenn das stimmte, dann hatte sie ein Wunder vollbracht.

„Was ist los?“, sagte er und nahm Svenja in den Arm. Aus Svenja sprudelte es nur so hervor: Wie sie heute Morgen aufgestanden und als Erstes zur Wiese gefahren war, um den weinenden Ali zu besuchen. Wie sie in den Schuppen gelinst hatte, um einen Blick auf Rosi zu erhaschen. Dabei stellte sie fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sie hatte das Pferd freigelassen, weil es ihr leid tat. Und was hatte Rosi gemacht? Statt wegzulaufen, war sie schnurstracks hinüber zu Scherrers Wiese spaziert, um Ali in Augenschein zu nehmen. Ali gab ein letztes jämmerliches Röhren von sich, bevor er verstummte und sich mit einem Ruck auf seine vier Beine stellte. Er trabte zum Zaun, auf dessen anderer Seite Rosi wartete, um sie vorsichtig zu beäugen.

Scherrer griff sich an den Kopf, als seine Tochter ihm erzählte, dass sie das Tor geöffnet hatte, um Rosi auf die Wiese zu lassen. Rosi begrüßte Ali mit einem Nasenstüber, und die beiden begannen, gemeinsam an dem Heu in der Futterkrippe zu rupfen. Als Svenja ging, hatte sie es nicht für nötig befunden, Rosi wieder in ihren Schuppen zu sperren. Auf dem schnellsten Weg war sie nach Hause geeilt, um ihren erstaunten Eltern die frohe Botschaft zu verkünden und - da war sie nun.

Scherrer kratzte sich am Bart und sah seine Tochter ernst an. Svenja ahnte, was kommen würde, und die Tränen schossen ihr ins Gesicht: „Rosi darf doch bei Ali bleiben, nicht wahr? Sie muss doch nicht sterben? Das darf der Pflederer nicht tun!“

„Die Sache ist nicht so einfach, wie du Dir das vorstellst“, begann Scherrer. Aber irgendwie sagte er damit das Falsche.

„Das darf er nicht tun!“, rief Svenja, stürmte hinaus und warf ihm Hinausrennen die Tür heftig hinter sich zu. Weinend verschwand sie in ihrem Zimmer.

Scherrer überlegte. Er redete eine Weile mit seiner Frau, dann ging er zum Telefon und wählte. „Lenz“, meldete sich am anderen Ende der Leitung eine Stimme. Scherrer erklärte in wenigen Worten, worum es ging, und eine halbe Stunde später trafen sich die beiden Männer auf Alis Wiese. Einträchtig standen der Ackergaul und das Kamel an der Futterkrippe. Als Scherrer sich den beiden näherte, schmiegte Rosi ihren Kopf an Alis Flanke.

„Sehen Sie nur, die beiden schmusen“, sagte Scherrer. Verlegen kratzte Dr. Lenz sich am Kinn. „Ich habe nicht bedacht, dass Kamele Herdentiere sind. Im Zirkus mag es Ali nicht besonders gut gegangen sein. Aber er hatte Gesellschaft. Er war nie allein.“

Nachdenklich betrachtete Scherrer die beiden Tiere „Sie kennen doch den Huber, dem das Pferd gehört“, sagte er schließlich. „Ja, ganz gut sogar“, antwortete Dr. Lenz, ebenfalls nachdenklich.

Als Scherrer nach Hause kam, half er seiner Frau beim Christbaumschmücken. „Was macht Svenja?“, fragte er und erfuhr, dass sie ihr Zimmer seit heute Morgen nicht mehr verlassen hatte. „Das wird ein schönes Weihnachtsfest geben“, meinte Scherrers Frau. Aber Scherrer sagte nur: „Lass nur. Es wird schon werden.“

Punkt sechs brannten am Baum die Kerzen. Vorsichtig klopfte Scherrer an Svenjas Tür. „Svenja“, sagte er, „das Christkind war da.“ Das interessierte Svenja im Moment herzlich wenig, und Scherrer brauchte eine ganze Weile, um seine Tochter dazu zu überreden mitzukommen. Schließlich schaffte er es, einer verheulten Svenja den buntgeschmückten Christbaum zu präsentieren. Ihr Gesicht hellte sich sogar ein wenig auf, ein bisschen nur, aber immerhin, als sie die Geschenke sah. Scherrer griff nach der alten Familienbibel, schlug sie auf, und im Kerzenschein las er die Weihnachtsgeschichte vor. Als Svenja sich lustlos daran machte, die Pakete auszupacken, die unter dem Weihnachtsbaum lagen, zeigte ihre Mutter auf zwei Krippenfiguren, die etwas abseits standen: ein Kamel und ein Esel.

„Ein Pferd war damals in Bethlehem leider nicht dabei“, sagte Scherrer. „Aber Du musst doch zugeben, dass die beiden Ali und Rosi ziemlich ähnlich sehen. – Ach ja, bevor ich es vergesse: Rosi gehört Dir. Ich habe sie dem Huber abgekauft.“

Mit einem Freudenschrei stürzte Svenja sich auf ihren Vater. Scherrer wusste, was kommen würde, und trotzdem es heftig schneite, hatte er den Wagen noch nicht in die Garage gefahren. Als sie an der Wiese anlangten, standen Ali und Rosi in ihrem Unterstand und rupften gemütlich das Heu aus der Futterkrippe. Sie waren so beschäftigt, dass sie den Mann, die Frau und das Mädchen, die am Zaun standen und ihnen zusahen, während um sie herum die weißen Flocken immer dichter fielen, gar nicht wahrnahmen. Aus der Ferne klang Glockengeläut herüber. Scherrer beugte sich hinab zu seiner Tochter und sagte: „Fröhliche Weihnachten!“

Alexander Amberg