Mit eigenen Augen
von Alexander Amberg
Als Ben aufwachte, musste er blinzeln, weil bereits hell und freundlich die Sonne in sein Zimmer schien. Er stand auf und ging ans Fenster. Bunte Krokusse und Osterglocken blühten im Garten, und bald würden die Weiden ihre Blüten öffnen. Die Vögel zwitscherten, und während ihres Morgenkonzerts trällerte eine Meise ihm zu „Ich bin hier“, und eine Amsel flötete „Du bist da.“ Ben presste seine Nase an die Scheibe. Sie beschlug zwar nicht, aber trotzdem fühlte sie sich ganz schön kühl an.
Er sah, wie Cognac um die Ecke bog, nein: schlenderte, die Rute hoch in der Luft, die Nase am Boden. Plötzlich stutzte er, spitzte seine Dackelohren, so gut es ging, und pirschte sich vorsichtig an die mächtige Tanne heran, die nachmittags ihren Schatten immer bis in Bens Zimmer warf. Seinerzeit war Cognac einmal ein gefürchteter Jäger gewesen, aber na ja ... Das war lange her.
Laut bellend stürzte er sich auf die Tanne. Etwas Braunes, Behaartes schoss unter den dichten Zweigen hervor, schlug einen blitzschnellen Haken und war auch schon verschwunden. Ein Hase. Ben sah ihn ganz deutlich. „Der Osterhase“, dachte er und war auf einmal ganz aufgeregt. Verdutzt ob seines schnellen Sieges schüttelte Cognac sich, kläffte noch einmal lustlos und neigte den Kopf zur Seite, als er die Stimme seines Herrchens hörte. Bens Großvater rief: „Cognac!“
Cognac ignorierte den Befehl hochmütig, trottete zu seinem Lieblingsbusch, umrundete ihn, sodass er nicht mehr zu sehen war – außer für Ben, der ja am Fenster stand – und hob das Bein, was ihm an dieser Stelle absolut verboten war. Obwohl die zahllosen Flecken im Rasen von seinem frevlerischen Tun zeugten, war es noch nie jemandem gelungen, ihn in flagranti zu erwischen; und jeder weiß, dass es sinnlos ist, einem Dackel etwas vorzuwerfen, was man ihm nicht beweisen kann.
Nach getaner Verrichtung machte er kehrt, und gerade in dem Augenblick, als sein Herrchen zum zweiten Mal „Cognac!“ rief, stand er vor ihm, als sei nichts gewesen, mit treuem Hundeblick und zaghaft mit dem Schwanz wedelnd. „Brav“, sagte Bens Großvater und beugte sich in die Knie, um dem Dackel über den Kopf zu streicheln.
Ben wandte sich vom Fenster ab. Er bekam nicht mit, wie der alte Mann über den Rasen ging und sich an der Tanne zu schaffen machte. Umso verwunderlicher war es, dass Ben später, beim Ostereiersuchen, gar nicht lange brauchte, bis er sein Nest fand. Zielstrebig ging er zu dem Baum und sah unter den dichten Zweigen nach. Verlegen kratzte sein Großvater sich hinter dem Ohr, als Ben ihm stolz das Nest mit den bunten Eiern präsentierte. „Im nächsten Jahr muss ich mir etwas Besseres einfallen lassen“, dachte er. Aber Ben dachte nur daran, dass dort der Osterhase gesessen hatte, bis Cognac ihn aufscheuchte. Er hatte ihn doch selbst gesehen – mit eigenen Augen!