Rechtfertigung des Ungerechtfertigten
oder welchen Sinn hat die Literatur?

von Alexander Amberg

Den Umgang der Menschen untereinander regelte vor Jahrtausenden der Dekalog. Moses empfing die zehn Gebote in einer mythischen Begegnung mit seinem Schöpfer und gab sie seinem Volk als Gesetz. So will es die Heilige Schrift, eine der ältesten Sammlungen poetischer Texte, die die Welt kennt. Aber schon bald reichten diese zehn Gebote nicht mehr aus, und das Ringen der Menschheit um Autonomie und die Selbständigkeit des Denkens begann.

Im Zeitalter der Aufklärung führte dies zur Erklärung der Menschenrechte. Im Vorfeld der französischen und im Gefolge der amerikanischen Revolution postulierte man die Würde des Individuums, indem man bürgerliche Wertvorstellungen ins Spiel brachte. Der dritte Stand wurde sich seiner selbst bewusst, und sein Aufstieg begann - nicht ohne Mühen, Rückschläge und erhebliche Hindernisse, die er im Laufe der Geschichte überwinden musste. Doch eisern hielt er an seinen Wertvorstellungen fest und tradierte sie von einer Generation zur anderen, von Republik zu Republik, bis im allgemeinen Denken Werte und bürgerliche Werte miteinander verschmolzen und als allein seligmachendes Prinzip angesehen wurden. Die Inhalte der Trias Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, wiewohl nirgends auf der Welt verwirklicht, werden noch heute hochgehalten, obwohl sie schon damals im krassen Gegensatz zur Realität standen.

All men are created equal, and they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, as there are: life, liberty, and the pursuit of happiness ...”, beginnt die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sind Werte, die man jedem seiner Mitmenschen zugestehen sollte. Doch was ist diese ominöse Freiheit eigentlich? Worin besteht sie? Wovon ist der Freie frei? Es ist bekannt, dass der bürgerliche und der sozialistische Freiheitsbegriff auseinanderklaffen.

Schließt Ersterer die Freizügigkeit ein als unabdingbare Voraussetzung eines sich selbst regulierenden Arbeitsmarktes, bei dem die Arbeitskräfte idealerweise der Arbeit folgen, also Freizügigkeit genießen müssen, definiert Letzterer Freiheit durch die Teilhabe an den Produktionsmitteln, die eben diese Arbeit - ermöglichen? - brauchen, benötigen?

Worin besteht die so oft beschworene Gleichheit? Chancengleichheit, gewiss. Aber wenn schon geschlechtsspezifische Unterschiede eklatante Auswirkungen auf die Möglichkeiten haben, die einem Individuum offenstehen, ist es mit dieser Gleichheit der Chancen nicht allzu weit her; und die Brüderlichkeit gar ist dabei, in einem so schwammigen Ausdruck wie Solidarität unterzugehen, der ebenso sehr die Loyalität innerhalb einer Adelskaste wie auch gewerkschaftliche Bestrebungen bezeichnen kann. Nach zwei Weltkriegen, der Erfahrung des Faschismus und dem Niedergang des Sozialismus sind tradierte Werte fragwürdig geworden. Materialismus und Utilitarismus haben ein Übriges dazu beigetragen, Wertmaßstäbe zu relativieren und ins Wanken zu bringen.

Ein Mittel, Werte zu transportieren, war immer auch die Literatur. In vergangenen Jahrhunderten stand ihr erzieherischer Auftrag außer Frage, der horazische Lehrsatz von den Wirkmöglichkeiten des prodesse/docere et delectare - nutzen/lehren und unterhalten hoch im Kurs. In England verfolgten die Comedy of Humours und die Comedy of Manners, die Sitten- oder Gesellschaftskomödie, das erklärte Ziel, Sitte und Moral zu heben. Ben Jonson, ein Zeitgenosse Shakespeares, geißelte allgemeine menschliche Schwächen. Dramatiker wie William Wycherley oder Congreve kritisierten Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm, indem sie sie auf die Bühne brachten.

Konnte ein Ben Jonson sich noch auf die reichhaltige mittelalterliche Tradition didaktischer Literatur berufen, schöpfte ein Wycherley eher aus dem Erfahrungsschatz eigener Anschauung bei Hofe oder in der City - der aufstrebenden Großstadt London. Das Motiv Landadel bei Hofe garantierte Komik, das Thema der gesellschaftlichen Reputation oder das Kontrastpaar Moral versus tatsächliches Verhalten bargen genügend Konfliktstoff für die Komödien der Zeit. Bis ins 19. Jahrhundert reichen die Ausläufer der Comedy of Humours. Einer ihrer letzten Vertreter, Oscar Wilde, fiel viktorianischen Moralvorstellungen zum Opfer und wurde wegen seiner Homosexualität vor Gericht gezerrt. Somerset Maughams Our Town dürfte die letzte Gesellschaftskomödie der Literaturgeschichte gewesen sein. Denn im 20. Jahrhundert verschwanden ihre wesentlichsten Voraussetzungen: verbindliche Annahmen darüber, was gute Sitten eigentlich sind. Die ethisch-moralische Orientierungslosigkeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts ließ die Bewohner der westlichen Welt in einem Wertevakuum zurück, das zu füllen man sich vergeblich bemüht. Feiert auf der einen Seite der Faschismus wieder fröhliche Urständ’, regt sich auf der anderen Seite der Widerstand gegen „Schmutz“ und Gewalt in der Literatur. Allenthalben wird der Ruf nach verbindlichen Normen laut, die den Einzelnen des ach so ungemütlichen Zwanges zum Denken entheben und wenigstens in der Fiktion einen Fluchtraum schaffen sollen, eine Zuflucht, in der die Welt noch heil ist und nicht „von des Gedankens Blässe angekränkelt“.

Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Literatur, Literatur und Gesellschaft, erfordert komplexe Antworten. Der Literatur Werteverlust und Sittenverderbnis vorzuwerfen, wenn sie keine Idylle zeigt, ist verfehlt. Ebenso falsch ist, eine Literatur zu fordern, die unreflektiert tradierte Vorstellungen infrage stellt. Eine am Publikumsgeschmack sich orientierende Literatur mag bei ihrer jeweiligen Zielgruppe auf Zustimmung stoßen, gar als engagiert missverstanden werden. Doch ist das einzige Engagement, das wir von der Literatur fordern können, dasjenige für die Wahrheit. Diese aristotelische Maxime hat auch in der Postmoderne nichts an Gültigkeit verloren.

Literatur muss sich nicht engagieren. Aber sie muss Nervenenden bloßlegen, und manchmal streut Literatur Salz in offene Wunden. Das geschieht nun einmal, wenn sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Oft genug entsteht daraus der Vorwurf, sie verderbe die guten Sitten.

Sitten, lateinisch mores - dass Literatur dieselben verdirbt, ist bekannt. Der Vorwurf, sie tue es, ist so alt wie die Menschheit. Goethe wurde geschmäht, weil sein Werther angeblich zum Selbstmord aufforderte, viele andere aus eben diesem Grunde nicht gedruckt. Die Kritiker Jonathan Swifts behaupteten allen Ernstes, in seinem Essay „A Modest Proposal ...“ leiste der Dekan dem Kannibalismus Vorschub. Dabei bediente Swift sich lediglich der bösartigen juvenalischen Satire, um untragbare Missstände anzuprangern und ein System zu kritisieren, das für die ländliche Bevölkerung Irlands den Ruin bedeutete. Vor wenigen Jahren entspann sich eine erregte Diskussion darum, ob Bret Easton Ellis in American Psycho Gewalt verherrliche. Der Roman schildert in Form eines Tagebuches Episoden aus dem Leben eines Yuppies und Massenmörders. Zwar scheut der Autor sich nicht, Akte äußerster Gewalt in scheinbar krudem Realismus darzustellen. Tatsächlich jedoch schildert er die Exzesse seines Protagonisten derart übersteigert, dass nur das Wort barock bleibt, um die Darstellungsart zu beschreiben. Bret Easton Ellis’ Thema ist modern - die Unmenschlichkeit der westlichen Gesellschaft. Sein Stil ist es nicht. Die Verwesungsszenarien, die Ellis seinem Leser zumutet, könnten ebenso gut in einem Danteschen Inferno angesiedelt sein. Wer Bret Easton Ellis der Verherrlichung von Gewalt bezichtigt, hängt den Boten für die Nachricht.

Wenn Jean Paul Sartres in seiner Autobiographie beschreibt, wie er sich als Fünfjähriger vorstellte, während der Messe ins Weihwasserbecken zu urinieren, ist das gewiss ein Affront gegen eine Art der Auffassung dessen, was gute Sitten sind. Doch indem Sartres das Profane in den Bereich des Sakralen eindringen lässt, entmythisiert er. Zweifellos ist dies legitim. Bewusst verstößt er gegen die guten Sitten, um für etwas wesentlich Tiefergehendes zu werben - den Menschen.

Der Vorwurf, Literatur verderbe die Sitten, wirft ein Licht auf das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft, auf das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen, der Literatur produziert. Zu einer Zeit, in der das Wort noch nichts von seiner magischen Kraft verloren hatte, wäre der Vorwurf der Sittenverderbnis schlichtweg undenkbar gewesen. Die höfische Dichtung des Mittelalters war das Produkt einer in sich geschlossenen Gruppe, einer Adelskaste, die sich über die Literatur ihres Wertesystems vergewisserte. Die Änderungen, die die Neuzeit auf allen Gebieten mit sich brachte, erschwerten diese Art der Selbstvergewisserung, die heute allenfalls Aufgabe trivialer Massenmedien ist. Die Diversifizierung aller Lebensbereiche, das Entstehen der neuen, der Naturwissenschaften, die Abkehr vom heliozentrischen Weltbild, die letztlich in die Trennung von Staat und Kirche mündete, erschütterten festverwurzelte Vorstellungen. Die beginnende Neuzeit sah nicht nur die Wende von der Agrargesellschaft hin zur Wirtschaftsform des Merkantilismus, sondern auch die Ursprünge des Romans, der das höfische Epos ersetzen sollte. Jahrhundertelang tradierte kollektive Vorstellungen, eingespielte Produktions- und Rezeptionsformen wurden abgelöst, weil sie den Bedürfnissen nicht mehr entsprachen. Die Zielgruppe des höfischen Dichters existierte nicht mehr, der Epiker hatte ausgedient.

So entstanden im 17. Jahrhundert im Dunstkreis protestantischer Ethik das Tagebuch und die Autobiographie, während zugleich der Roman sich entwickelte. Die kollektive Produktionsform mittelalterlicher klösterlicher Schreibwerkstätten wich dem privaten Ambiente des stillen Kämmerleins, in das der Schreibende sich zurückzog, um die neuen Genres zu Papier zu bringen. Schon äußerlich ist dies ein Hinweis auf die zunehmende Subjektivierung und Psychologisierung der Literatur. Dieser Wandel an sich ist Ausdruck einer Krise, in die das Denken geraten war. Ein verändertes Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, überhaupt die Geburt des Individuums, veränderte die gesamte Literatur. Ihre ambivalente Stellung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist selbst Ausdruck dieser Krise, aus der das Denken seither nicht geraten ist.

Der Einzelne, der sich im Kollektiv nicht mehr wiederfindet und dennoch beispielhaft dafür steht, ist sowohl Protagonist zahlloser Prosawerke als auch das lyrische Ich ungezählter Gedichte. Diese Rolle ist auch die Rolle des Autors. Dieses Spannungsverhältnis erfuhr und erfährt die unterschiedlichsten Ausprägungen. Dass gegen eine auf derartigen Grundlagen basierende Literatur der Vorwurf erhoben wird, sie verderbe die Sitten, nimmt nicht wunder.

Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist seit der Erfindung der Schrift auch eines der literarisch fruchtbarsten Themen. Eine Koryphäe wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Northrop Frye reduziert in Anatomy of Criticism den Stoff oder plot einer jeden Komödie der Weltliteratur auf die Formel „boy wants girl“. Kommt zu diesem Thema die gesellschaftlich-politische Dimension hinzu, ist man nicht mehr weit entfernt von der Haupt- und Staatsaktion, die zur Tragödie geraten kann. Die Darstellung von Sexualität und Gewalt innerhalb bestimmter, allerdings niemals klar definierter Grenzen scheint tolerierbar: Außerhalb dieses Bereiches beginnt die Kritik. Niemand käme heutzutage, Jahrzehnte nach der sogenannten sexuellen Revolution, auf die Idee, einen Gesellschaftsroman wie Lady Chatterley’s Lover als anstößig zu betrachten, und niemand würde eine Dystopie wie A Clockwork Orange aus dem Kanon des 20. Jahrhunderts streichen.

Die Grenzen, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit markieren, sind flexibel, abhängig von Zeit und Raum. Konstanten scheint es nicht zu geben; denn lange Zeit hätte zwar niemand daran gedacht zu versuchen, pornographische Machwerke aus dem Sumpf der Trivialität zu heben. Doch kein Geringerer als Milos Forman exerzierte eben dies vor, als er in seinem Film Larry Flynt, den amerikanischen Pornokönig und Herausgeber des Magazins Hustler, zum Vorkämpfer der Pressefreiheit stilisierte.

Vergangene Zeiten kannten die Bücherverbrennung. Stellvertretend für den Autor wurde sein Werk den Flammen überantwortet, wenn es der Staatsgewalt nicht genehm war - oder der Kirche. In Deutschland loderten während des Dritten Reiches die Scheiterhaufen. Bis zu ihrem Bankrott kannte die DDR die Zensur. In den USA sind die Hexenjagden der Ära McCarthy ein unrühmliches Pendant dieser Art, Druckwerke zu entsorgen. Die weltumfassende katholische Kirche hält noch immer an ihrem Index Romanorum Librorum Prohibitorum fest. Äußerlich weniger gewaltsam als diese institutionalisierten Unterdrückungsinstrumente sind die Unterschriftensammlungen biederer Hausfrauen, die sich gegen Schmutz und Gewalt in der Literatur, vor allem aber in den elektronischen Medien wenden. Gemeinsam ist all diesen Anstrengungen der Versuch, ex negativo einen Kanon zu erstellen. Weil es diesen verbindlich nicht mehr gibt, greifen die Verfechter derart drastischer Maßnahmen zu wenig subtilen Mitteln, ihre Vorstellungen von guter Literatur, guten Sitten und politischer Korrektheit durchzusetzen.

Auch eine pluralistische, multikulturelle und multimediale Gesellschaft sieht sich immer wieder mit der Forderung nach der Reinerhaltung der Literatur (wovon?) und einem sauberen Bildschirm konfrontiert. Bei all dem kommt anscheinend niemand auf den Gedanken, nach einem positiven Lösungsansatz zu suchen, sprich: eine Liste lesenswerter Bücher zu erstellen, die die Sitten garantiert nicht verderben.

Aber wer wäre dieser bibliographischen Arbeit gewachsen? Mithin stehen wir hier vor dem Problem, das kein Geringerer als Harold Bloom mit unnachahmlicher Ironie in seinem Mammutwerk The Western Canon umreißt: Die Diversifizierung der Literatur, die Orientierung alles Gedruckten an Zielgruppen und der schier unbändige Ordnungswille des homo sapiens zu Beginn des dritten Jahrtausends haben die Internationale der Skribenten, die Weltliteratur, in den Hintergrund gedrängt und statt dessen eine Vielzahl von Literaturen entstehen lassen, deren jede ein eigenes Etikett trägt. Als da wären: nationale Literaturen, Frauenliteratur, Männerliteratur, Kinderliteratur, christliche Literatur, islamische Literatur, feministische Literatur, wissenschaftliche Literatur, populärwissenschaftliche Literatur, lesbische Literatur, schwule Literatur, afroamerikanische Literatur (um nur eine ethnische Gruppe zu nennen) und viele Literaturen mehr. Allein die Vielzahl der Klassifizierungen zeigt, dass der Wunsch nach einem Leitfaden, einer veritablen Orientierungshilfe - einem „Führer“ im bösen Doppelsinn dieses Wortes - durch den Wust des Gedruckten durchaus vorhanden ist.

Kann Literatur denn mehr, als der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten? Oft genug wird dieser Spiegel bewundert, wenn er ein verzerrtes Bild wiedergibt und das Hässliche verschönt. Was aber, wenn die Abbildung sich an der Wirklichkeit orientiert? Mag sein, dass die Art der Darstellung mit dem sogenannten guten Geschmack kollidiert. Doch taten das auch die Dramen der Naturalisten, Goethes Werther oder Shakespeares Sonette, in denen der Herausgeber George Steevens homoerotische Neigungen zu entdecken vermeinte und den Schluss zog:

It is impossible to read this fulsome panegyrick, addressed to a male object, without an equal mixture of disgust and indignation.1

Was man „gute Sitten“ nennt, ist zweifelsohne eine Vielzahl gesellschaftlicher Erscheinungen, die im Laufe der Geschichte zahllosen Veränderungen unterworfen waren. Eine geschmacksbildende Norm ist abhängig von einem System ethischer und gesellschaftlicher Werte, und gerade in einer Zeit, die den allgemeinen Werteverlust beklagt, dürfte eine derartige Norm ferner denn je sein. Ein Grund zu trauern ist das sicher nicht. Oder vielleicht doch? D.H. Lawrence, Lady Chatterley’s Lover, George Bernard Shaw, Mrs Warren’s Profession, Heinrich Heine sind heute anerkannte Klassiker. Seinerzeit stießen sie auf einige Kritik.

Der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, heißt nicht, ständig die Pose des scharfzüngigen Satirikers einzunehmen oder sich im Kabarett zu verlieren. Literatur ist mehr als eine Soap Opera. Literatur handelt von Menschen und dem, was sie tun oder lassen, von ihren Motiven und Ängsten, ihren Erfolgen und Fehlern. Der Schriftsteller sollte seinen Zeigefinger nicht erheben, sondern mit ihm zeigen, verweisen in einem wahrhaft antiquierten Sinn. Das ist gewiss nicht leicht, und viele scheitern an dieser Aufgabe. Vielleicht ist das die Ursache dafür, dass literarische Werke von Belang so selten sind.

Wo eine in Fragen der Moral orientierungslos gewordene Gesellschaft verzweifelt um ein Wertesystem ringt, ist die Literatur gefragter denn je. Der Literat muss sich der Verantwortung bewusst werden, die er auf sich nimmt, wenn er an die Öffentlichkeit tritt. Wer seine Stimme erhebt, um gehört zu werden, sollte auch etwas zu sagen haben. Diese Forderung stellte Aristoteles in seiner Poetik. Von der Tragödie verlangte er nicht nur einen psychologischen Reinigungseffekt. Vor allem hatte sie eine ethische Aufgabe zu erfüllen. Im letzten Jahrhundert war es Brecht, der sich mit seiner antiaristotelischen Poetik gegen eine poetologische Tradition wandte, die Aristoteles missverstanden hatte, und so, ohne es zu wissen, die Forderungen des altgriechischen Poetikers neu formulierte.

Literatur und Ethik dürfen nicht auseinanderklaffen. Das Theater ist keine Erziehungsanstalt und die Literatur kein pädagogisches Instrument. Wohl aber fasst Literatur Gedanken in Worte, und besinnt man sich auf den griechischen Ursprung des Wortes Kritik, stellt man fest, dass es von Krise kommt. Eine Krise aber ist immer eine Krise des Denkens. Wo Veränderungen zum Denken zwingen, ergibt sich zwangsläufig Kritik im neutralsten aller Sinne: als Denken über Möglichkeiten und Wirkungen. Dies ist eine Aufgabe, die Literatur ganz sicher leisten kann und vielleicht nichts und niemand besser als sie.

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