Science Fiction und Sozialismus: H.G. Wells und das Ende der Utopie

von Alexander Amberg

Kulturelle Umwälzungen brachten den Menschen schon immer dazu, seine Lebensumstände zu überdenken. Einige dieser Überlegungen fanden ihren Niederschlag in Romanform. Die ersten, die auf diese Weise publizierten, waren Xenophon und Plato. Die Tradition, die sie initiierten, griff erst die Renaissance wieder auf mit Werken wie Thomas Mores Utopia (1516), einem Buch, das seinen Titel einem ganzen Genre lieh. Die Entwicklungen während der industriellen Revolution brachten eine ganze Reihe neuer Utopien mit sich, in England beispielsweise diejenigen von Bellamy (Looking Backward 2000-1887, 1888), William Morris (News from Nowhere, 1891) und Herbert George Wells, dem ersten wirklich erfolgreichen englischen Science-Fiction-Autor und gleichzeitig einem der letzten Utopisten. Denn die Erfahrung zweier Weltkriege führte im 20. Jahrhundert zur Aufgabe positiven utopischen Denkens. Die Dystopie löste die Utopie ab.

Im Unterschied zu früheren Utopisten ersann H.G. Wells nicht nur eine einzige Utopie, sondern so viele, daß der Platz nicht ausreicht, sie alle zu diskutieren. Zu seinen Hauptwerken zählen When the Sleeper Wakes (1899), The First Men in the Moon (1901), A Modern Utopia (1905), The New Macchiavelli (1911), The World Set Free (1914), Men Like Gods (1922), The Shape of Things to Come (1933) und Mind at the End of Its Tether (1945). Die Bedeutung seines Werkes liegt in der Tatsache, daß er als einer der letzten Autoren optimistisch in die Zukunft sah. Doch sollte diese Haltung sich gegen Ende seines Lebens ändern.

Seine Hinwendung zum Sozialismus und sein utopisches Interesse sind wahrscheinlich auf seine Herkunft zurückzuführen. H.G. Wells (1866-1946) wurde in Bromley, Kent, als Sohn eines erfolglosen kleinen Geschäftsmannes in die untere Mittelschicht hineingeboren. Mit 15 ging er zu einem Tuchhändler in die Lehre. Später wurde er Hilfslehrer in der Midhurst Grammar School und erhielt 1884 die Zulassung zur Normal School of Science in South Kensington. Dort lernte er T.H. Huxley kennen, dessen Ansichten über Evolution und Darwinismus ihn stark beeinflussen sollten. 1886 immatrikulierte er sich an der Universität London und verließ sie 1890 als B.Sc. der Zoologie und Geologie. Nachdem er einige Jahre als Lehrer gearbeitet hatte, zwangen ihn gesundheitliche Gründe, sich dem Schreiben zuzuwenden. Die 1891 geschlossene Ehe mit seiner Cousine Isabel erwies sich als unglücklich. Nach seiner Scheidung heiratete er 1895 seine frühere Schülerin Amy Catherine Robbins. Trotzdem hörte er nie auf, die Institution Ehe in Frage zu stellen.

1903 schloß er sich der Fabian Society an. Doch bald überwarf er sich mit deren Führern, aber auch mit seinem Förderer George Bernard Shaw und dem Ehepaar Sidney und Beatrice Webb. 1906 verließ er die Vereinigung. Reisen nach Amerika und Rußland brachten ihn in Kontakt mit Lenin, Stalin und Franklin D. Roosevelt. Als er 1946 starb, war sein früherer Optimismus einer düsteren Sicht der Zukunft gewichen.

Als Schriftsteller war er stets mehr Journalist als Künstler. Immer hatte er ein Ziel vor Augen. Die Literatur war für ihn nur Mittel, seine politischen Vorstellungen zu verbreiten. Er sah sich selbst als Sozialist. Aber sein Sozialismus leitete sich eher von Saint-Simon, Comte und Bellamy her als von Marx und Morris. Er sah die Fehler des tradierten kapitalistischen Systems und glaubte naiverweise, daß er dieses System dazu überreden könnte, sich zu ändern. Nicht den Kapitalismus an sich betrachtete er als Fehler, sondern die Unvollkommenheiten, die seine frühen Stadien begleiteten. Der Sozialismus war für ihn im Grunde nur ein Mittel, die Geburtswehen des kapitalistischen Systems zu überwinden.

Diesen Standpunkt teilte er mit den Fabianern, denen er sich im Jahre 1903 anschloß. Damals war für ihn Sozialismus gleichbedeutend mit Fabianismus, obwohl letzterer sich aus einer Vielzahl sozialistischer Richtungen zusammensetzte, deren einziges verbindendes Glied die britische Kompromißfreudigkeit war. Es gab keinen allgemeinen Nenner außer dem, daß Profitstreben falsch sei. Typisch war der Satz Proudhons: "La propriété c'est le Vol." Da man das Profitstreben aus dem Wirtschaftsleben eliminieren wollte, war man gleichzeitig der Meinung, daß der Privatbesitz in nahezu allen Formen abzuschaffen sei. Wie die anderen Fabianer wandte auch Wells sich gegen übersteigerten Individualismus und den Laissez-Faire-Kapitalismus. Sowohl Land als auch Industriekapital sollten dem Staat gehören. Abgesehen davon hatte er eigene Gedanken über ein neues System, eine neue Regierung, über Erziehung und Wirtschaft. Da er in der Blütezeit des britischen Imperialismus aufwuchs, fühlte er sich vom Gedanken des Weltfriedens ebenso angezogen wie von dem des Freihandels. Nicht von ungefähr gipfeln seine Überlegungen in der Idee eines Weltstaates.

Obwohl Wells zeitlebens das alte System kritisierte, war er dennoch überzeugt, daß im Laufe der Evolution der Weltstaat sich zwangsläufig etablieren mußte. A Modern Utopia (1905) beschreibt ein solches System. Erst gegen Ende seines Lebens sah er, bedingt durch die Erfahrung zweier Weltkriege und das Aufkommen des Faschismus, die Zukunft pessimistischer.

Theoretisch sollte die Verwirklichung eines Weltstaates keine allzu großen Probleme aufwerfen, da die technische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert der Welt vollkommen neue Möglichkeiten erschloß. Sie stattete den Menschen mit nie dagewesenen Kommunikations- und Transportmitteln aus. Strecken, die bislang zu Pferd zurückgelegt wurden, schmolzen zusammen zu einem Bruchteil der bisherigen Entfernung und erweiterten den Radius von Verwaltungseinheiten auf ein bis dahin nicht vorstellbares Ausmaß.

Aber mit der Vorstellung eines Weltstaates akzeptierte Wells die britische Imperialismuspolitik und verließ den Weg des Machbaren. Folglich vernachlässigte er die Bedeutung lokaler Administration als Kirchturmpolitik. Dem konnten die Fabianer nicht zustimmen. Wie sie war Wells jedoch davon überzeugt, daß Land und Industriekapital nur dem Gemeinwesen gehören durften. Da er aber nicht glaubte, daß zeitgenössische Regierungen oder Verwaltungen dieser Aufgabe gewachsen seien, stand er vor dem Problem zu entscheiden, welches Gemeinwesen denn nun Land und Industriekapital besitzen sollte. In seinen Worten: wer der "competent receiver" (Experiment in Autobiography), der kompetente Empfänger sein sollte. In dieser Hinsicht hatten die Fabianer keine Lösung zu bieten; denn sie wollten die bestehende Ordnung mit ihren Mitgliedern durchsetzen, um ihre Ziele zu verwirklichen, nicht aber das System ändern. So wenigstens sah H.G. Wells die Fabian Society, die ihren Namen von Fabianus Cunctator entliehen hatte, dem römischen Feldherrn, der im dritten Punischen Krieg aufgrund seiner Hinhaltestrategie schließlich den Sieg davontrug, ohne sich jemals einer Schlacht zu stellen. Die Fabianer stellten sich Wells als Protestbewegung ohne Konzept dar. Gleichwohl stimmte er mit ihnen darin überein, daß nicht die arbeitende Klasse dazu bestimmt war, Reformen zu verwirklichen. Das war wohl auch der Grund, warum sie scheiterten.

Wells' negative Einstellung gegenüber der Arbeiterklasse nimmt mitunter seltsame Formen an. Oft ist die Furcht zu spüren oder gar der Haß, den er ihr gegenüber hegt. Wenn in seinen Büchern Arbeiter auftreten, sind sie ungeschlachte, verkümmerte und oftmals deformierte Wesen wie die Seleniten in The First Men in the Moon oder die Morlocks in The Time Machine. Ein weiteres Beispiel für diese Haltung liefert When the Sleeper Wakes. Wells bekannte sich ganz offen dazu. In seinem Experiment in Autobiography (1934) bekennt er, er habe niemals an die Überlegenheit des Minderwertigen geglaubt. Der in diesen Worten anklingende Sozialdarwinismus ist unüberhörbar. Folglich war für ihn auch der Marxismus vollkommen inakzeptabel. Nie konnte er sich mit der Vorstellung anfreunden, daß das Proletariat sich gegen eine Bourgeoisie erheben und die Expropriateure expropiieren sollte usw. Denn daraus folgte nicht notwendigerweise, daß das derart an die Regierungsgewalt gelangte Proletariat auch in der Lage sein sollte, diese auszuüben.

Was Wells wollte, war die Gleichheit der Möglichkeiten. Ihm schwebte eine klassenlose Gesellschaft vor, deren Mitglieder allesamt einer erweiterten Mittelschicht angehörten, einer Gentlemen-Klasse sozusagen. An ein revolutionäres Proletariat dachte er nicht im geringsten. Er kam zu dem Schluß, daß die Regierungsgewalt in den Händen einer Körperschaft vereint sein sollte, die engere Bande zusammenschlossen als bloße Parteizugehörigkeit. Unter dem Einfluß C.G. Jungs unterteilte er die Gesellschaft nicht in soziale, sondern in mentale Klassen. Wells kam zu dieser Erkenntnis durch den Vergleich des westlichen mit dem nachrevolutionären russischen System. Beiderorts sah er dieselben Schwierigkeiten, woraus er folgerte, angeborene Geisteshaltungen, mentale Typen, seien dafür verantwortlich. In seiner Autobiographie spricht er von drei mentalen Klassen oder Typen: dem zufriedenen Typ, dessen Ansichten stabil sind und der sich am Überkommenen orientiert, dem verärgerten defensiven Typus oder dem gewalttätigen Reaktionär, der sich jeder Veränderung entgegenstellt, und dem offenen innovativen Typus, der der wahre Revolutionär ist und der einzige, der jemals eine wirkliche Veränderung, sprich: Reform, zustande bringen wird. Da solche Revolutionäre in allen Interessensphären zu finden seien und eben keine kompakte Masse darstellen wie z.B. eine Partei, mußte man nach einem Weg suchen, all diese unterschiedlichen Ansichten zu vereinen. Mit anderen Worten: Wells suchte nach dem "competent receiver", dem kompetenten Empfänger.

Er mußte das tun, weil er das marxistische Konzept einer auf den Produktionsbedingungen aufbauenden Klassengesellschaft von sich wies, aber keine andere praktische Lösung anbieten konnte. Wells' Irrweg wird offensichtlich, wenn man betrachtet, wie er die mentalen Klassen in seinen diversen Werken beschreibt. In A Modern Utopia unterteilt er die Gesellschaft in vier mentale Klassen, die er Poietic, Kinetic, Dull - dumm und base - niedrig nennt. In The Work, Wealth and Happiness of Mankind (1932) trifft er eine etwas andere Unterscheidung. Er teilt die Gesellschaft ein in Bauern, Autokraten und Priester. Da diese Klassifikationen ohne jeden Bezug zu tatsächlichen Gegebenheiten sind, ist der Erfindungsgabe hier keine Grenze gesetzt. Man könnte die Klasseneinteilung beliebig erweitern oder benennen.

Wells widerspricht sich selbst, wenn er einerseits die Gesellschaft einteilt in mentale Klassen, andererseits von einer Gesellschaft träumt, die nur aus einer erweiterten Mittelschicht besteht. Keine Klassenunterschiede also, sondern lediglich angeborene, willkürliche und unveränderliche psychologische Eigenarten. Sein Mißtrauen gegenüber der Fähigkeit des Proletariers zur Macht sowie sein Glaube an eine Reform durch eine erleuchtete Minderheit, die sich in einer offenen Verschwörung zusammenschließt, erinnern zwar an die Ideale der Fabianer, sind aber zutiefst undemokratisch, ebenso wie sein von Plato übernommenes Konzept einer spezialisierten Gesellschaft, in der auch die Regierung lediglich die Angelegenheit von Spezialisten ist.

In A Modern Utopia (1905) liegt die Macht in den Händen einer intelligenten Kriegerkaste. Auf seiner Suche nach dem "competent receiver" verglich Wells diese Kaste mit der Kommunistischen Partei Rußlands. Dabei fand er erstaunliche Übereinstimmungen. In beiden Fällen gab es die Möglichkeit, Mitglieder auszuschließen. Ebenso konnte man Disziplinarmaßnahmen verhängen. Ein großer Teil des Volkes stand außerhalb der administrativen Organisation, und in beiden Fällen gab es die Möglichkeit ideologischer Schulung. Dem britischen Marxisten A.L. Morton zufolge (A.L. Morton, The English Utopia (London, 1952), p. 190) übersah Wells jedoch den wesentlichen Unterschied zwischen seiner Kriegerkaste und der KP, der darin bestand, daß seine sogenannten Samurai sich von den Massen absondern, die sie beherrschen, während die Kommunisten idealerweise immer Teil der Klasse bleiben, die sie führen. Doch genau dies sollte Wells anprangern. Während er Lenins Konzept einer kommunistischen Partei und den Fünf-Jahres-Plan begrüßte, verursachte seine Audienz bei Stalin 1933 einen Sinneswandel. Er erkannte, daß eine vor unabhängiger Kritik geschützte Bürokratie Einzug gehalten hatte und betrachtete fortan die Sowjetunion als Paradebeispiel eines neuen experimentellen Staatskapitalismus.

 

 

Da Wells im Kommunismus keine Lösung erblickte und sich auch sonst keine Institution vorstellen konnte, die gerade in England zu einer Veränderung führen könnte, mußte er sich andernorts nach einem "competent receiver" umsehen: in Amerika, dem Land erleuchteter Kapitalisten wie der Fords und Rockefellers, der Morrises und Monds. Selbst der Börsenkrach von 1929 belehrte ihn keines Besseren.

Als 1920 der Völkerbund gegründet wurde, war Wells enttäuscht davon, daß die USA dem Bund nicht beitraten und ihn somit als internationale Institution nicht hoffähig machten. Doch nach 1929 fühlte er sich angezogen von  Roosevelts Politik des New Deal und seiner brain trust politics. Der Gedanke von Spezialisten als Regierungsberatern, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Versuche zur Begrenzung der Überschußproduktion, was letztlich zur Entwicklung des modernen Sozialstaates führte, kamen Wells' Vorstellungen von einer spezialisierten Gesellschaft entgegen. Er glaubte, die Ziele Rußlands und der USA seien dieselben, nämlich die Errichtung eines progressiv organisierten riesigen Gemeinwesens. Doch im Gegensatz zur "persönlicheren" Ausrichtung des russischen Systems bewunderte Wells den amerikanischen Ansatz und Roosevelt als den tatsächlichen Revolutionär der neuen Art, der niemals die revolutionäre politische Krise provozierte. Morton bezeichnet Wells' hochspezialisiertes Utopia als die Antithese des Sozialismus, weil er Roosevelt zur Führerfigur stilisierte und die Arbeiterklasse von der Regierungsgewalt vollkommen ausschloß.

Da Wells die Vorstellung einer gewalttätigen Revolution verabscheute - was möglicherweise zurückgeht auf die Erfahrung des ersten Weltkriegs, die ihm die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führte - wollte er seine Mittelklassegesellschaft auf dem Weg der Erziehung errichten. Er erkannte, daß Bildung und soziales Gefüge einander bedingen. Das bedeutete für ihn aber auch ideologischen Unterricht, denn um einen sozialistischen Staat zu errichten, mußte man zunächst eine sozialistische Bevölkerung schaffen. Er war der Überzeugung, daß die offene Verschwörung sich auf vielerlei Art konstituieren könne. Doch die größte Schlacht, die zuvor geschlagen werden mußte, war diejenige auf dem Feld der Bildung.

Wells’ Ansichten zur Bildung sind beeinflußt von seiner Sicht der Geschichte, seinem Glauben an die Evolution. Die Ausbreitung des Wissens seit der Aufklärung führte zu enormem wissenschaftlichen Fortschritt und zu den Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die Wells die mechanische Revolution nennt, etwas vollkommen Neues, dem sich soziale, ökonomische und politische Verfahrensweisen anpassen mußten. Im Gegensatz dazu nannte er die Auswirkungen der mechanischen die industrielle Revolution, die in seinen Augen nichts anderes war als eine soziale und finanzielle Entwicklung, die bereits mehrmals in der Geschichte aufgetreten war, nun aber die Grundlage für den Aufstieg des Kapitalismus bildete. Doch während vergleichbare historische Entwicklungen wie z.B. der Sieg der Römer in den Punischen Kriegen zu einem Anstieg der Sklavenarbeit einerseits und der Verarmung der Bevölkerung andererseits führten, ersetzten im 19. Jahrhundert Maschinen den Bedarf an Muskelkraft. Folglich wurde der Mensch nicht mehr nur als Kraftquelle angesehen, sondern als denkendes Wesen, dem auch ein gewisses Maß an Bildung zuteil werden mußte, damit er unter den veränderten Bedingungen weiterhin seine Funktion erfüllen konnte.

Der Elementary Education Act von 1871 unterstellte die Erziehung staatlicher Kontrolle. Die Auswirkungen des deutschen Sieges über Frankreich werden hier offenbar. Aus eigener Anschauung wußte Wells jedoch, daß dies eben nicht Chancengleichheit bedeutete. Denn dem Arbeiter sollte nur soviel Bildung zuteil werden, wie er für seine jeweilige Tätigkeit benötigte. Das britische Bildungssystem entließ die Schüler mit 13 oder 14 Jahren, viel zu früh, um ihnen mehr als das Notwendigste zu vermitteln. Die Unterschicht hatte keine Ahnung, wofür sie überhaupt arbeitete. Das resultierte in Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität des Produkts oder der Dienstleistung, die man lieferte. Später sollte ein anderes Wort diese Haltung kennzeichnen: Entfremdung. Wells nannte dies Labour mentality, den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten und höheren Löhnen. Doch traf das nicht die Wurzel des Problems: die Notwendigkeit, das Interesse der Arbeiter zu wecken.

Tatsächlich schwebte Wells eine Gesellschaft vor, in der die (Aus)Bildung nie zu Ende war bzw. so weit wie möglich nach vorne verschoben wurde. Er forderte nicht nur eine breitere, sondern eine vollkommen neue Art der Bildung, die auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaute. Die Betonung lag auf der gesellschaftlichen Funktion dieser Bildungsbemühungen. Aufgabe der Erziehung war, die Intelligenz des Individuums in Verbindung zu setzen mit der Entwicklung der Gesellschaft. Wells forderte eine gemeinsame Grundlage der Bildungsziele. D.h. weltweit sollte ein- und dieselbe Schulausbildung ein- und dieselbe Weltsicht vermitteln. Was Wells wollte, war, bereits in der Schule eine Ideologie zu vermitteln, die den Weltstaat als Ziel der Evolution propagierte.

Das Wissen, das er der Weitergabe wert befand, schlägt sich nieder in folgenden drei Werken: seiner Outline of History, The Science of Life und The Work, Wealth and Happiness of Mankind. Wie die Titel zeigen, basierte diese Art Wellsscher Bildung v.a. auf biologischen und historischen Erkenntnissen und auf dem, was Wells "Human Ecology" nannte. Ein modernes Wort dafür wäre vielleicht Soziologie.

Für Wells war der Sozialismus eine Art sozialer Hygiene. Er wollte das Gemeinwesen auf Vordermann bringen und es mit einem verbesserten Wirtschaftssystem ausstatten. Der Sozialismus war für ihn eigentlich nur ein Weg, dem Kapitalismus aus den Kinderschuhen herauszuhelfen. Am Ende dieses Weges stand leuchtend das Wellssche Utopia. A Modern Utopia beschreibt ein Wirtschaftssystem, in dem innerhalb eines Rahmens volkseigenen Land- und übrigen Besitzes privates Unternehmertum floriert. Damit einher gehen Maßnahmen zur Sicherung der Vollbeschäftigung.

Gerade wegen dieses letzten Punktes bewunderte Wells Roosevelts Politik des New Deal. Abgesehen davon wandte er sich jedoch gegen den Laissez-Faire-Kapitalismus, trat allerdings ein für den Freihandel, für ihn nicht der letzte der Gründe, einen Weltstaat zu fordern. V.a. war er der Ansicht, nur eine durchdachte Planwirtschaft im Gefolge einer Währungsreform könne die Zukunft der Welt sichern.

Die Fabianer teilten diese Meinung nicht. In einem Traktat von 1870 beteuerten sie, sich nur für die praktische Demokratie und den Sozialismus einzusetzen, während sie folgenden Punkten gleichgültig gegenüber stünden: der Frage der Ehe, Religion, Kunst, abstrakte Wirtschaftslehre, Währung oder jedwedem anderen Thema. Doch war all dies nicht die Ursache, warum Wells die Fabianer verließ. Wells zufolge war der Grund seine Einstellung zur Sexualität. Nach seiner Scheidung trat er ein für die freie Liebe und die Abschaffung der Institution Ehe sowie die Tolerierung außerehelicher Beziehungen. Die Abschaffung sozialer und legaler Sanktionen in diesem Bereich waren in seinen Augen ein großer Schritt in die Richtung der Freiheit des Individuums. Die Familie als Stütze des Staates konnte er nicht akzeptieren. Folgerichtig rief er in Sachen Kindererziehung nach dem Staat, um jedes Besitzdenken in zwischenmenschlichen Beziehungen, auch und vor allem zwischen den Geschlechtern, auszuschalten. Das wiederum konnten seine Zeitgenossen nicht akzeptieren, weder die Fabianer noch die Labour Partei oder die Suffragetten. 1906 verließ er darum die fabianische Bewegung.

Lovat Dickson (H.G. Wells, His Turbulent Life and Times (New York, 1969), p. 131) gibt jedoch eine andere Version zum besten, derzufolge Wells in letzter Minute an der Paddington Station am Durchbrennen mit der Tochter des fabianischen Führers Hubert Bland gehindert wurde. Der Skandal soll Wells zum Rückzug gezwungen haben.

Doch war sein Leben voller solcher Ereignisse. Er war ganz einfach zu bekannt, um ihn allein deswegen auszuschließen, und, wie es scheint, identifizierte er sich trotz allem viel zu sehr mit den Zielen der fabianischen Gesellschaft. Vielmehr müssen Meinungsverschiedenheiten mit den Köpfen der Bewegung eine entscheidende Rolle gespielt haben, v.a. mit den Webbs und George Bernard Shaw.

Wells betete den Fortschritt an. Er wollte den von Experten kontrollierten Weltstaat, der sich aus einer Mittelklassegesellschaft zusammensetzte. An die Fähigkeiten der Arbeiterklasse glaubte er nicht. So mußte er nach jemand anderem suchen, der in der Lage wäre, die ganze Welt zu regieren, dem "competent receiver". Die Erziehung respektive Bildung sah er als das Mittel an, seine Vorstellungen zu transportieren, die Menschen ideologisch zu beeinflussen und so letztlich eine Reform herbeizuführen. Da Wells aber den Klassenkampf nicht als Mittel der Reform ansah, mußte diese Veränderung zwangsläufig von außerhalb der Gesellschaft kommen. Weil er die tatsächlichen gesellschaftlichen Probleme nicht erkannte, blieben alle seine Vorstellungen Illusion. Gegen Ende seines Lebens wurde er darum immer pessimistischer. Seine Utopie blieb eine Utopie. Wie der Fabianismus blieben auch Wells' Versuche lediglich Versuche, den Kapitalismus mit Ideen auszurüsten, die die Zukunft sichern halfen. Nach Wells gab es keine Utopien mehr. Das Genre blieb zwar erhalten. Da es aber keine positiven Inhalte mehr vermitteln konnte, ist es heute nur noch Dokument der Verzweiflung oder dient allenfalls der Satire.