Am 9. November/ Rückkehr

Er kam zurück in die alte Stadt, die seinen Vater und Mutter und seine Schwester gesehen hat.
Das war vor sechzig Jahren. Ist das so lange her? Es kommt ihm vor wie gestern, das Atmen fällt ihm schwer.

Seine Eltern waren junge Leute, als er sie zum letzten Mal sah.
An einem Gedenkstein steht er heute und fragt sich, was mit ihnen geschah.
Seine Schwester sieht er noch vor sich mit lachendem Kindergesicht.
Lange Jahre fragte er sich vergeblich: „Herr, wo bleibt Dein Gericht?“

Er sieht sich um in den Straßen, die Menschen sind freundlich und nett.
Er fragt sich „Wie war all das möglich?“ und denkt „Hassen kann ich sie nicht.“
Er denkt: „Mein Gott kennt allein die Rache, Verzeihen kennt er nicht.
Doch ist es seine Rache, und es ist sein Gericht.“

Aber wird er jemals vergessen? Vergessen wird er nicht. Denn nachts in seinen Träumen sieht er immerzu Leas Gesicht.
Er denkt „Kein Mensch wird als Mörder geboren, sondern als kleines Kind.
Und Kinder sind überall so, wie Kinder überall sind.
Doch es gibt die Sünden der Väter, es gibt sie, ob man will oder nicht. Aber erbt man sie, lebt man auch später? Oder wird nur der gleichfalls zum Täter, der jemals die Opfer vergißt?“

In seiner Erinnerung sind nur Schmerzen, früher weinte er sehr. Die Straße ist voller Menschen, sinnend sieht er sich um. Er steht vor einem Gedenkstein und zündet drei Kerzen an.

Alexander Amberg, vertont in: Heinz Ratz, „… Ich bin des Regenbogens angeklagt“ - Texte für Toleranz (CD, Audiobuch, Freiburg, 2002)