Kräuterfrau und Kannibalin

Die Geschichte eines Massenmords – Teil 1

von Alexander Amberg

Wir alle kennen sie: Hexen. Ob aus Goethes Faust, Shakespeares Macbeth, Rosemary’s Baby oder den Märchen der Gebrüder Grimm. Wer fürchtete sich als Kind nicht bei dem Satz „Knusper knusper Knäuschen, wer knuspert an mein’m Häuschen?“ Wer bangte nicht mit Hänsel, der den Finger aus dem Käfig strecken musste, damit die kurzsichtige Hexe prüfen konnte, ob er schon zum Verzehr geeignet sei. Und wem läuft kein Schauer über den Rücken, wenn er sieht, wie die drei furchterregenden Gestalten Macbeths Zukunft weissagen?

Heute sind Hexen allenfalls Teil der Folklore. Für die Menschen früherer Zeiten hingegen waren sie Realität.

Ihr mieser Charakter wird damit offenbar. Die Hexe frisst kleine Kinder. Sie tötet mit Gift – siehe „Schneewittchen“. Sie reitet auf einem Besen und tanzt auf dem Blocksberg. Sie verkehrt mit dem Teufel – im wahrsten Sinne des Wortes. Gerade dieser letzte Punkt beflügelte die Phantasie so manchen Inquisitors, Hexenjägers oder Mönches, der einer geschundenen Frau während der Folter geistlichen Trost spendete.

Natürlich tut die Hexe all dies im Geheimen, sodass sie nicht so ohne Weiteres zu erkennen ist. Dem Einfallsreichtum gewiefter Hexenjäger wurde schon einiges zugemutet, die Teufelsbündlerin zu entlarven. Doch gibt es Anhaltspunkte. Der Teufel beispielsweise besucht sie in Tiergestalt, um ihr beizuwohnen. Oder sollten wir es deutlicher ausdrücken? Meist erscheint er als schwarze Katze, die sich nächtens zu der Hexe legt, um an ihrer dritten Warze zu saugen. Diese ist absolut schmerzunempfindlich und folglich das sicherste Erkennungszeichen der Hexe. Generationen von Folterknechten fanden ihr Vergnügen darin, die armen Frauen, die von böswilligen Nachbarn, Kindern oder gar Ehemännern denunziert wurden, bis aufs Blut zu quälen, um die ominöse Stelle zu entdecken. Jeder Zentimeter des weiblichen Körpers wurde von diesen Sadisten aufs Grausamste traktiert.

Stach ein solcher Rohling seine Nadel in Narbengewebe, das nicht blutete, hatte er den Beweis: Die Frau vor ihm war eine Hexe. Dass es unter den Hexenjägern, die dies öffentlich auf Marktplätzen praktizierten, auch Scharlatane gab, die mit versenkbaren Nadeln arbeiteten, um auf jeden Fall einen Erfolg vorzuweisen, ist so gut wie bewiesen. Waren sie doch freie Unternehmer, deren Ruf durch einen Misserfolg ruiniert war.

Aber auch die Wasserprobe erwies sich als todsicher. Denn das reine Element stößt die unreine Hexe ab. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Das heißt: Warf man die Hexe, an Händen und Füßen gefesselt, ins Wasser, konnte sie nicht untergehen. Geschah dies dennoch und sie ertrank, war ihre Unschuld bewiesen und wenigstens ihre Seele vor der ewigen Verdammnis gerettet. Über den Ort, an dem ihre Schergen sich nach dem Ableben aufhalten, ist nichts bekannt.

In jedem Fall war der Verdacht, eine Hexe zu sein, gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Starb die Unglückliche nicht schon auf der Folter, gestand sie in der Regel alles, was man ihr zur Last legte, um den unerträglichen Qualen zu entgehen. Allerdings nur, um auf dem Scheiterhaufen zu enden.

Manchmal jedoch gelang es einer Frau oder einem Mann, dem Verdacht entgegenzutreten, indem der Verleumder seinerseits angezeigt wurde. Schnelligkeit war dabei gefragt. Die erste offizielle Anzeige war oft die erfolgreiche. Der Verleumder wusste, dass ihn eine hohe Strafe erwartete, wenn sich der Verdacht nicht bestätigte.

Im Vorteil waren bei dieser Prozedur mit Sicherheit gesellschaftlich höherstehende Frauen, Frauen mit rechtskundigen Männern und Männer. Endgültigen Schutz bot die Verfahrensweise nicht. War der Verdacht stark, wurde unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt ein Prozess eröffnet. Dann half nichts mehr!

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Abgesehen von ihren allgemeinen Merkmalen gibt es verschiedene Arten von Hexen, von denen die Kräuterhexe und die Wetterhexe nur die bekanntesten sind. In Gegenden, die von der Landwirtschaft abhängig waren – und bis ins 20. Jahrhundert hinein waren dies weite Teile Europas – hatte man besonders Angst vor Hexen, die dem Vieh oder der Ernte schadeten. Gab die Kuh keine Milch mehr, war sonnenklar: Eine Hexe war am Werk. War der Frühling verregnet, sodass das Korn am Halm verschimmelte, wusste jeder: Eine Hexe trieb ihr Unwesen.

Ein Verdacht wurde zur Gewissheit, wenn eine Frau – besonders wenn sie zuvor schon etwas wunderlich schien – das Glück hatte, eine bessere Ernte einzufahren als ihr Nachbar oder eine Kuh zu besitzen, die mehr Milch gab.

Betrachtet man die Hochzeit der Hexenverfolgung in Süddeutschland, verwundert nicht, dass immer wieder gerade Argumente wie Missernten, Unwetter oder Ähnliches herangezogen wurden. Im ausgehenden 16. Jahrhundert kam es gehäuft zu Ernteausfällen aufgrund natürlicher Einflüsse. Berücksichtigt man, dass ein Bauer nur wenig Überschuss produzierte (ein landwirtschaftlicher Betrieb der frühen Neuzeit erzeugte nicht einmal Güter für eine weitere Familie) und Ernteeinbußen seine Existenz bedrohten, nimmt nicht wunder, dass die Gründe außerhalb seiner selbst gesucht wurden. Stellt man weiter fest, dass ein Ernteausfall als Strafe Gottes gesehen wurde, war die einfachste Lösung, mit alldem umzugehen, einen Verantwortlichen zu suchen. Eine Verantwortliche!

Noch mein Großvater nannte mir ein Rezept, wie man eine Hexe entdeckt. Er hatte es von seinen Vorfahren und war vom Wirken der Hexen überzeugt. Erst als in den dreißiger Jahren die Staatsgewalt des südosteuropäischen Landes, dessen Bürger er war, zu einem Trick griff und die Hexerei für verboten erklärte, war der alte Mann beruhigt: Verboten war schließlich verboten! Wenn selbst die Obrigkeit sich darum kümmerte ...

So weit seine Erzählungen. Ich weiß nicht, wer ihm das erzählte. Jedenfalls existiert ein solches Verbot nicht. Doch noch in der Nachkriegszeit, in den Jahren des Wirtschaftswunders, ließ der alte Mann, mittlerweile in der Bundesrepublik angelangt, es sich nicht nehmen, im Fundament seines neuen Hauses die Leiche eines Maulwurfs zu versenken. Warum wohl?

Eine Hexe zu entdecken, ist im Grunde ganz einfach. Man nehme einen Topf Milch und bringe ihn zum Kochen. Lediglich der Zeitpunkt des Siedens muss exakt eingehalten werden. Punkt elf Uhr nachts muss die Milch brodeln. In die kochende Milch stoße man mit einer Gabel. Wieder und wieder, so fest man kann. Mit jedem Stoß trifft man die Hexe. Am nächsten Tag dürfte es nicht schwer fallen, die Frau ausfindig zu machen, die am ganzen Körper zerschlagen und voller blauer Flecken ist. (Wohlgemerkt, das Rezept stammt aus Südosteuropa, und zwar aus einer Zeit, in der die Züchtigung in der Ehe gang und gäbe war. Wer gezüchtigt wurde, stand natürlich von vornherein fest.)

Um einer Hexe wirklich zu schaden, tauche man eine Peitsche in Salz. Jeder Hieb mit dem gesalzenen Lederriemen fügt der Hexe unsagbaren Schmerz zu, wenn er sie trifft. Wer’s nicht glaubt, muss es nur ausprobieren. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, sollte man fragen, wer keine Schmerzen spürt, wenn ihn eine Peitsche trifft.

Hexen arbeiten mit vielerlei Mitteln. Eines davon ist der Analogzauber. Wie im Voodoo-Kult, glaubte man auch bei uns im Mittelalter, dass einer Hexe schon ein Gegenstand genüge, der von einer bestimmten Person stammte, um dieser Schaden zuzufügen. Zum Beispiel ein einzelnes Haar. Dieses in eine Wachsfigur eingefügt, die Puppe mit einer Nadel traktiert und – richtig: Die Hexe trifft den Besitzer des Haares.

In vielen Prozessen gegen Hexen erklären die „Geschädigten“, ein Schaden sei erst dann eingetreten, wenn die Hexe ein Tier oder einen Menschen berührt habe. Es ist schon fast eine feststehende Formel, wenn es heißt: „Die X kam in den Stall. Nachdem sie ihre Hand auf die Kuh gelegt hatte, gab die keine Milch mehr.“ Oder: „Die X streichelte meinen Gaul, danach lahmte er.“ Oder: „Die X beugte sich über meinen Säugling, liebkoste ihn, danach war er ein Krüppel.“

Vielleicht gehören Sie zu den Leuten, die all dies als Aberglauben abtun. Wie recht Sie haben! Aber warum mussten, während der Hexenwahn in Europa wütete, Zehntausende von Frauen sterben? Und nicht nur Frauen! Was ist dran an den Geschichten über Hexen? Warum wurden harmlose Menschen so grausam verfolgt? Was veranlasste Institutionen wie die beiden großen Kirchen, diesen Wahnsinn anzufachen? War es nur Aberglaube? Die Angst vor dem Übersinnlichen? Dem Bösen? Oder steckt mehr dahinter?

Immerhin verfolgten zumindest einige der Denunzianten und Hexenjäger handfeste wirtschaftliche Interessen Warum hat die Kirche das Instrument, dessen sie sich zur Ausrottung der Hexen bediente, beibehalten? Denn die Inquisition wurde nie richtig abgeschafft. Als Glaubenskongregation existiert sie weiterhin. War die Inquisition überhaupt ein Instrument zur Ausrottung der Hexen? Schließlich ist sie ja nur ein kirchenrechtliches Verfahren, bei dem allein aufgrund eines Verdachts, also ohne Vorlage von Beweisen, ein Urteil gefällt werden kann.

Im Vorwort seiner Anthologie Teufelsglaube und Hexenprozesse sagt Georg Schwaiger:

"Jeder weiß, daß in weiten Teilen der gegenwärtigen Welt Menschenrechte mißachtet, Menschen in dem Grundrecht körperlicher und seelischer Unverletzbarkeit, auch in einem Mindestmaß an sozialer Sicherheit tief getroffen werden. Zwar spricht man heute nicht mehr von Hexenverfolgung und Hexenprozessen, aber die Methoden grausamer Bedrückung haben gerade im 20. Jahrhundert ein Ausmaß erreicht wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit."1

Auf dem Gymnasium hatte ich als Religionslehrer einen Priester, der zum Exorzisten geweiht war. Der gute Mann fasste sein Amt als symbolisch auf. Dem Bösen in der Welt gelte es entgegenzutreten, nicht dem personifizierten Teufel. Doch Papst Johannes Paul II. hat Zeitungsberichten zufolge im Jahr 1993 höchstpersönlich einen Exorzismus vorgenommen an einer jungen Frau, die er als besessen einstufte. Noch in den 90er Jahren wurden jährlich neue Priester zu Teufelsaustreibern berufen, vor allem in Turin, einer modernen Industriestadt, die von den Fiat-Werken lebt. Dort sollten einer Armee von über 50.000(!) Satanisten 18 Exorzisten gegenüberstehen.

Auch wenn fast alle der Fälle, zu denen ein Exorzist hinzugezogen wird, Psychiatern übergeben werden, bleibt doch ein verschwindend geringer Prozentsatz, den die katholische Kirche als Besessenheit einstuft. Teufelswerk! In unserer Zeit!

Was hat es damit auf sich? An welcher Tradition hält der Vatikan da fest?

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Feministinnen, Kirchenmänner und Historiker beschäftigten sich mit diesem dunklen Kapitel abendländischer Geschichte. Die Zahl der Veröffentlichungen ist Legion. Worauf sind sie gestoßen? Ist es wahr, dass alte heidnische Kulte die Herrschaft der Kirche bis in die Reformationszeit hinein überdauerten und dass ihre Priesterinnen als Hexen auf dem Scheiterhaufen endeten? War der Hexenwahn „von oben“ geschürt? Als probates Mittel, eine unbequeme politische Opposition auszuschalten? Deckte ein geschickt geführter Propagandafeldzug alle Spuren zu? Sind die Hexenprozesse tatsächlich nichts anderes als die grausamen Dokumente eines blinden, menschenverachtenden Aberglaubens? Oder ging auf den Scheiterhaufen eine ganze Tradition in Flammen auf?

Diesen Fragen nachzugehen, wird die Herausforderung sein, vor der die folgenden Teile dieser Reihe stehen. Vielleicht finden wir die eine oder andere Antwort darauf. Zunächst aber ist eine andere, ganz simple Frage zu klären: Was ist eine Hexe?

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Die Zaunreiterin

Die Märchenhexe ist uns bereits begegnet. Eine alte Frau, triefäugig, hässlich, auf einen Stock gestützt, mit einer Katze oder einem Raben auf der Schulter, die im Wald lebt und auf Bosheit sinnt. Waltraud Jilg nennt außerdem noch die Sagenhexe.2

Zum einen nennt sie hier Wind- und Wetterhexen, deren Vorläufer alte Gewitterdämonen sind. Zum andern führt sie sie auf die Sagen von bösen Hausgeistern, Werwolf, Alp und Trude zurück. Oft verdankt die Sagenhexe ihre Macht einem Teufelspakt. Doch tritt der Teufel selbst stark in den Hintergrund. Vor allem wird meist die Ohnmacht des Teufels gegenüber dem Christentum betont. Aha!

Der Begriff Hexe ist ein Sammelbegriff, der Einflüsse der verschiedensten Kulturen vereint. Orientalische, ägyptische, keltische, germanische, slawische, aber auch antike griechisch-römische Vorstellungen finden hier ihren Niederschlag. Mittelalterliche Theologen übernahmen ältere Namen (Gazarii, Waudenses, lamiae, strigae, maleficae) oder erfanden neue (haeretici fascinarii, Valdenses idolatrae, strigimagae, sobaces). Bis ins 14. Jahrhundert sind lamia, striga oder das Wort Unholde häufiger als Hexe.

Althochdeutsch sagte man noch hagazussa.3 Das Wort setzt sich zusammen aus hagZaun und zussaWeib und entspricht dem Altnordischen tunripa, oberdeutsch zunrîte und niederdeutsch walrîderske. Mittelhochdeutsch sagte man hecse oder hesse, Altenglisch haegtesse, im moderneren Englisch verkürzt zu hag. All diese Wörter bedeuten dasselbe: Zaunreiterin. Die Zaunreiterin war ein weibliches Nachtgespenst, das umherflog und Kinder fraß.

Etwas vorsichtiger als Jilg und Weiser bezeichnet der Duden das Grundwort zussa als bis heute nicht sicher gedeutet. Möglicherweise muss man es zusammen sehen mit dem norwegischen tysjaElfe.4

Seit dem 13. Jahrhundert wird das Wort Hexe, vom oberdeutschen Sprachraum ausgehend, gebräuchlich für eine Zauberin, die nächtens ihren Schadenszauber wirkt. Zusammen damit ist eine Entwicklung festzustellen, wie sie in der Religionsgeschichte oft zu beobachten ist. Die Gottheiten unterlegener Religionen werden herabgesetzt, um sie ethisch zu entwerten. So auch im Fall der phrygischen Kybele, der großen Erdmutter, die das christliche Mittelalter umdeutete zur Großmutter des Teufels.5 Erst das Spätmittelalter entwickelte eine systematische Hexenlehre, die ihren schriftlichen Ausdruck fand in einem der abscheulichsten Machwerke der Geschichte: dem Hexenhammer.

Erschienen in Straßburg 1487 fixieren die beiden Dominikaner (domini canes - die Hunde des Herrn, der mit der Inquisition beauftragte Orden) Heinrich Institoris und Jakob Sprenger darin die rechtlichen Grundlagen der Hexenprozesse. Bis 1669 erschienen 29 weitere Auflagen. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis weit ins 18. Jahrhundert loderten in Europa die Scheiterhaufen. Interessanterweise erreichte der Hexenwahn seinen Höhepunkt in der politisch brisanten Zeit zwischen 1590 und 1630, also vom Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges bis etwa zu dem Zeitpunkt, als die meisten europäischen Mächte darin verwickelt waren. Ist der Hexenwahn wirklich nur Produkt blinden Aberglaubens? Oder steckt mehr dahinter?

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Doch bevor wir uns diesem widerwärtigen Schriftstück zuwenden und den Erklärungsmodellen für den Wahn, für den es steht, sei eines angemerkt: Es geht hier nicht darum, in naiver Kritiksucht die Kirche anzugreifen. Denn das wäre zu einfach und ist schon oft genug geschehen. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand unter dem Vorzeichen des Kulturkampfes eine breite Literatur, die die Behandlung dieses Themas zum Anlass oder Vorwand nahm, die katholische Kirche anzugreifen. Dabei verschwieg man wohlweislich, dass auch die Reformation die Scheiterhaufen kannte. Auch im protestantischen Amerika wurden Hexen verbrannt, während im allerkatholischsten Spanien zwar unzählige Ketzer den Feuertod fanden, doch kein einziges Urteil wegen des Tatbestands der Hexerei vollstreckt wurde. Waren die Inquisitoren in Spanien aufgeklärter als andernorts?

In Deutschland verbrannte man oftmals einträchtig nebeneinander Hexen. Lagen eine katholische und eine protestantische Grafschaft unmittelbar nebeneinander, lässt sich schwer sagen, wo mehr Hexen verbrannt wurden. Der scheinbar aufgeklärtere Protestantismus schützte also vor Wahn oder systematischer Vernichtung nicht.

Nein, nicht um naive vordergründige Allerweltskritik kann es hier gehen, sondern darum, die Mechanismen zu enthüllen, die zu der grausamen und menschenverachtenden Entwicklung führten. Warum gab es Frauen, die sich selbst anzeigten, sich der Teufelsbuhlschaft bezichtigten und so ihr eigenes Todesurteil sprachen?

Das Wort Massenhysterie allein reicht nicht aus, dies zu erklären. Aber vielleicht wirft der Versuch, die damaligen Gegebenheiten zu verstehen, ein – wenn auch nicht allzu helles – Licht auf uns selbst. Wir sind ja so weit entfernt vom finsteren Mittelalter, in dem all dies seinen Platz hat.

Aber stimmt das auch? Sind nicht Renaissance und Humanismus, eben die Zeit der Reformation, die Blütezeit der Hexenverfolgungen? Feiert der Hexenwahn nicht gerade dann fröhliche Urständ’, als Europa die klassische Antike und das Individuum entdeckt? Triumphiert der finsterste Aberglaube nicht gerade zu dem Zeitpunkt, als im Abendland das Denken rational zu werden beginnt und die Morgenröte der Aufklärung, zum Beispiel in den neuen – den Naturwissenschaften, sich am Horizont abzeichnet?

Denn was ist es anderes als im bösesten Sinne des Wortes rational, den Hexenglauben in ein System zu zwingen und so ein Instrument zu schaffen, Hexen aufzuspüren und auszurotten. Hexenjagden hat es auch in späterer Zeit gegeben. In den USA bezeichnete man die Kommunistenverfolgungen der Ära McCarthy mit eben diesem Wort. Worin unterscheiden sich die Schauprozesse des Volksgerichtshofes von denen der Inquisition? Doch allerhöchstens darin, dass es letzteren vielleicht in irgend einem verborgenen Winkel wirklich noch um das Seelenheil der Angeklagten ging.

Auch in anderen totalitären Staaten gab und gibt es Schauprozesse. Überall auf der Welt werden Andersdenkende verfolgt. Man braucht sich nur die Berichte von amnesty international anzusehen, um das kalte Grausen zu bekommen, falls man von der Tagesschau noch nicht genug hat.

Auch wenn nicht immer die physische Zerstörung des anderen das Ziel ist, sind die Mechanismen doch überall ähnlich. Was also unterscheidet uns von den Hexenjägern des Mittelalters? Sie können zu ihrer Entschuldigung wenigstens anführen, dass sie vor der Aufklärung lebten. Und wir?

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1 Georg Schwaiger (Hg.), Teufelsglaube und Hexenprozesse, 2. Aufl. (München 1988), pp. 9f.

2 Vgl. Waltraud Jilg, „‘Hexe’ und ‘Hexerei’ als kultur- und religionsgeschichtliches Phänomen“, pp. 38ff., in: Georg Schwaiger (Hg.), Teufelsglaube und Hexenprozesse, 2. Aufl. (München 1988), pp. 37-56.

3 Zur Etymologie des Wortes Hexe vgl. L. Weiser 1834-1834, in: Bächthold-Stäubli (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III.

4 Der Duden in 10 Bänden, Bd. 7: Etymologie, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Günther Drosdowski, Paul Grebe und anderen (Mannheim/Wien/Zürich 1969), s.v. „Hexe“.

5 Vgl. Jilg, op. cit., p. 42.