Johann Joachim Becher – ein Realist voller Ideale – am Beispiel seines Infrastrukturprogramms

von Alexander Amberg

Johann Joachim Becher (1635-1682), Speyerer Pfarrerssohn und zugleich vielgereiste, faustische Gestalt, lebte am Wendepunkt zwischen Mittelalter und Moderne. Er war Alchimist und Wissenschaftler, vor allem aber ein Denker, Kind seiner Zeit und dieser doch weit voraus.

Um ihn zu verstehen, müssen wir seine Schriften und Projekte zwangsläufig einzeln, voneinander getrennt betrachten, doch erst in der Gesamtschau ergibt sich ein geschlossenes Bild. Denn bei Becher ist nichts Selbstzweck, alles erfolgt zum Wohle des Gemeinwesens, des Staates. Als Wirtschaftstheoretiker entwirft Becher in seinem „Politischen Discurs“ von 1668 ein umfassendes, in sich geschlossenes System der Staats- und Wirtschaftspolitik, dessen schiere Größe es letztlich zum Scheitern verurteilt. „[Becher] denkt und fühlt und konzipiert sein System … wie ein Künstler des Barock“, resümiert Joachim Klaus1 und zitiert Arnold Hausers Sozialgeschichte der Kunst und Literatur: „er 'tritt mit einer einheitlichen Vision an seinen Gegenstand heran, und in dieser Vision geht schließlich alles Besondere und Einzelne unter'.“

Ja, Becher war ein Vordenker moderner Wirtschaftslehren. Er führte die Vorstellung vom Wirtschaftskreislauf in die ökonomische Analyse ein, und außerdem ist „Becher ... sicher der erste Marktformentheoretiker gewesen.“2 Seine Ordnungsüberlegungen muten modern an. Sein geschlossenes System hätte funktionieren können, wäre es möglich gewesen, einen institutionellen Rahmen dafür zu schaffen und Macht und Machtmissbrauch auszuschließen. Mit anderen Worten: Hätte die Realität dem nicht entgegengestanden.

Bechers Werkhaus zum Beispiel – Hans-Joachim Spengler erläutert das Projekt und dessen Scheitern ausführlich3 – war ein zukunftsweisendes Modellprojekt, das wie so vieles im Sande verlief. Etwa um 1675 auf dem Wiener Tabor errichtet – die Taborstraße ist eine der ältesten Straßen Wiens, mit Anschluss an die Fernstraßen nach Prag und Brünn, heute markiert eher der Gaußplatz die damalige Lage – geriet Bechers Werkhaus mit der Zeit doch in Vergessenheit. 1683 brannte es nieder und wurde nicht wieder aufgebaut. Mehr noch, sein im Grunde auf eine duale Ausbildung zielendes Projekt wurde im Lauf der Zeit – bis zum 19. Jahrhundert – zum Arbeits- und Armenhaus degradiert.

Bechers Werkhausprojekt führte Produktionsstätten und Technologien zusammen, dies war zu seiner Zeit etwas völlig Neues. Laboratorien, Destillier- und Schmelzöfen, Hammer- und Pumpwerke, Schleifmaschinen, ein Sauerbrunnen zur Salpeterherstellung, Wohnungen für Arbeiter und Lehrlinge, Schulungsräume – alles an einem Ort!

Darin bestand Bechers Utopie, „gutwillige Personen“ in Arbeit zu bringen. Die Voraussetzung: eine gute Ausbildung, auch für Mädchen. Eine „Gewerbelehranstalt“ musste über Bedarf ausbilden – hehre Ziele einer modernen Beschäftigungspolitik.

Aber das Werkhaus war nur Teil eines wesentlich umfassenderen Infrastrukturprogramms.4 In seinem „Politischen Discurs“ analysiert Becher in der Sprache des Barock die Voraussetzungen für Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung. Ihm ging es darum, unter staatlicher Kontrolle gesunde Marktstrukturen und Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Erst Jahrhunderte später wurden manche seiner Ideen umgesetzt.

Bechers Strukturplan umfasste drei „Häuser“: das Provianthaus, das Kaufhaus und das Werkhaus – eigentlich ging es ihm damit um eine staatlich gelenkte Preispolitik, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.

Das „Provianthaus“ ist ein Lager, in dem Bauern gegen Bezahlung ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse abliefern. In regelmäßigen Abständen sollten in ländlichen Gebieten Provianthäuser errichtet werden. Das städtische Gegenstück ist das „Kaufhaus“, in dem Kaufleute ihre Waren – unter Qualitäts- und Preiskontrolle – abliefern. Für den Verbraucher herrscht Preissicherheit, der Hersteller ist vor ausländischen Konkurrenten geschützt, deren Importe zugunsten der heimischen Wirtschaft beschränkt werden. Das Werkhaus schließlich richtet sich an den Stand der Handwerker. Als staatliche Manufaktur ist es Instrument der Arbeitsbeschaffung und zugleich Musterwerkstatt, die sowohl der Ausbildung als auch der Einführung technischer Neuerungen dient.

Implizit empfiehlt Becher damit eine regionale Strukturpolitik mit Mittel- und Oberzentren. Zugleich zeigt sich aber auch, dass, was so modern anmutet, Wurzeln in der Vergangenheit hat. Ein Lager für landwirtschaftliche Erzeugnisse, das moderate Preise garantiert, wird schon in der Bibel erwähnt – in der Josefserzählung in Genesis, 37ff. rät Josef dem Pharao, angesichts sieben fetter Jahre, Korn in Kornspeichern – „Provianthäusern“ – einzulagern, damit die Bevölkerung in den bevorstehenden sieben mageren Jahren nicht hungern muss.

Seit dem 16. Jahrhundert gab es Ansätze, Magazine für Notzeiten zu errichten. In Preußen wandte man sich diesem Thema erst ab 1700 zu.5 Bechers Ideen waren in der Tat zukunftsweisend.

Becher überträgt eine organische Naturauffassung auf den politischen Körper des Staates. Priorität hat bei ihm stets das Gemeinwohl. Bildung ist bei ihm keineswegs Selbstzweck und soll auch nicht dem Seelenheil, wie noch zu seiner Schulzeit in Speyer gang und gäbe, dienen, sondern der Förderung des Staates. Becher trat für technische Neuerungen ein, allerdings nur, wenn diese keine Arbeitsplätze kosteten. Monopole, überhaupt alles, was den Markt störte, waren ihm ein Gräuel.

Zwar sind Handwerk und Gewerbe schon seit langem von den „engen Fesseln der Zünfte“ befreit, doch sind viele von Bechers Forderungen noch heute nicht umgesetzt. Langzeitarbeitslose zum Beispiel werden eben nicht in „Arbeit und Brot“ gebracht, sondern nur noch verwaltet und als Hartz IV-Empfänger zu Almosenempfängern degradiert.

Johann Joachim Becher forderte, das Einkommen der Arbeiter solle es diesen ermöglichen, ihre Familien zu ernähren – was ebenfalls modern anmutet. Selbst ein Erzkapitalist wie Henry Ford forderte bereits in den 1920er Jahren einen Mindestlohn, um den Lebensunterhalt zu sichern. Davon sind wir heute weit entfernt. Obwohl es nur eine simple Rechenaufgabe ist, den Rentenbedarf eines Durchschnittsverdieners – sagen wir, in 20 bis 30 Jahren – zu ermitteln und davon ausgehend zu errechnen, wie viel er heute verdienen muss, um in der Lage zu sein, auch künftig seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, werden immer noch Dumping-Löhne gezahlt, 450-Euro-Jobs sind an der Tagesordnung. Niemand scheint zu sehen, dass, wer heute von Billiglöhnen profitiert, letztlich vom Steuerzahler subventioniert wird, weil dieser – der Steuerzahler – über kurz oder lang in die Bresche springen muss, die sich eines Tages auftun wird.

Becher ging es um das Gemeinwohl. Bei Becher soll das Streben nach dem eigenen Vorteil im privaten Wettbewerb letztlich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Mit seinen Gedanken zur Beschäftigungsförderung, dem Ausbau von Gewerbe und Manufaktur mit dem Ziel, einen Handel zu ermöglichen, der weder von Zünften noch von Zöllen behindert wird, erweist Becher sich als hochmoderner Realist. Becher war seiner Zeit weit voraus. Manche, die über ihn schreiben, werten, wie zum Beispiel Prof. Carl Böhret, das bekannte Gorbatschow-Zitat dahingehend um, „... dass auch der bestraft wird, der zu früh kommt“.

erschienen in: Johann Joachim Becher und die Gegenwart – Festgabe für Hans-Joachim Spengler zum 70. Geburtstag, hrsg. i.A. der J.J. Becher-Gesellschaft von Carl Böhret und Klaus Stein (Speyer, 2014).

Anmerkungen:

1 Joachim Klaus, „Johann Joachim Bechers Universalsystem der Staats- und Wirtschaftspolitik“, S. 61, in: Joachim Klaus/ Joachim Starbatty: Johann Joachim Bechers „Politischer Discurs“, Vademecum zu einem universellen merkantilistischen Klassiker, Düsseldorf 1990, S. 21-61.

2 op. cit., S. 59.

3 Hans-Joachim Spengler, „Johann Joachim Becher und seine Idee mit dem Werkhaus in Wien“, Durchblick 2012.

4 Vgl. Joachim Klaus, „Johann Joachim Bechers Universalsystem ...“, S. 45f.

5 Vgl. Herbert Hassinger, Johann Joachim Becher, Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus, Wien 1951, S. 104.