Was bedeutet Erinnerung? Genügt es, zu sagen: „Das war ich nicht“? Genügt es, „Stolpersteine“ zu verlegen, die signalisieren, dass hier etwas geschah, von dem man sich distanziert?

Wenige Jahre nach dem Fall der Mauer besuchte ich anlässlich der Shakespeare-Tage ein mehrtägiges Doktoranden-Kolloquium der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar – der Stadt, die einstmals Goethe, Herder, Schiller und Wieland beherbergte. Die einzige Stadt auf dem europäischen Festland, in der ein Denkmal an den englischen Nationaldichter erinnert.

Christoph Martin Wieland (1733-1813), der Begründer des deutschen Bildungsromans, der deutschen Aufklärung verpflichtet, übersetzte 22 Dramen Shakespeares ins Deutsche. Damit setzte er die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Rezeptionsgeschichte erst so richtig in Gang.

In seiner Eigenschaft als Theaterdirektor ließ Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der deutsche Nationaldichter, auch Dramen Shakespeares aufführen, der ihn auf vielfältige Weise beeinflusste.

William Shakespeare ist bekannt für seinen freizügigen Umgang mit Fakten. Damit schuf er einige der größten Werke der Weltliteratur, biederte sich aber auch bei den jeweiligen Machthabern an – verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er in einer Zeit lebte, in der, wer etwas Falsches publizierte, seine rechte Hand verlor. Als Mann des Theaters zählte er zur Unterschicht, kämpfte um ein bürgerliches Dasein, was ihm gelang. Erst spätere Generationen stilisierten ihn – politischen Interessen geschuldet – zum Nationaldichter. Ähnlich wie bei Goethe. Doch ich schweife ab, oder? Nicht ganz.

Jede Gesellschaft braucht Kristallisationsfiguren. In England ist dies Shakespeare, in Deutschland Goethe. Reden wir von Shakespeare oder Goethe, sprechen wir nicht über den jeweiligen Menschen, sondern über das unsere Kultur Prägende. Über uns beziehungsweise das, was wir gerne wären.

Doch zurück zu den Shakespeare-Tagen. Besonders beeindruckte mich ein Vortrag von Geoffrey Hartman (1929-2016) über Shakespeares Historiendramen.

Hartman, der Literaturprofessor aus Yale, bekannt als Vertreter der Schule des Dekonstruktivismus, Überlebender der Shoa, redete nicht nur über Shakespeare und dessen Dramen, sondern auch ausgiebig über Geschichte. Er sprach von Erinnerungskultur und Gedenken. Manche seiner Worte haben mich seitdem nie wieder losgelassen, zumal wir im Anschluss daran eine Fahrt in das nur wenige Kilometer entfernte ehemalige Konzentrationslager Buchenwald unternahmen. Im Tor dieses Vernichtungslagers steht in eisernen Lettern der zynische Satz: „Jedem das Seine.“

Es war eine bunt gemischte Gesellschaft, darunter ein Opernsänger, der pausenlos redete und Witz versprühte. Doch selbst ihm verschlug es die Sprache, als wir die dunkle Halle betraten, in der vor einem in Stein gemeißelten „Memento“ eine einsame Kerze brannte. Erinnerung an den Holocaust. An Millionen Ermordeter. Die Besichtigung des KZs zeigte eindrücklich, wie leicht es fällt, Menschen wehzutun.

In seinem Vortrag sagte Geoffrey Hartman, der amerikanische Literaturpapst, eine Gesellschaft definiere sich durch ihre Geschichte. Geschichtsbetrachtung dürfe allein der Wahrheit dienen. Denn die Geschichte kennt keinen Teppich, unter den sich unliebsame Ereignisse kehren lassen.

Betrachte man Geschichte, versuche man Vergangenheitsbewältigung, gehe es nicht darum, über dem Einzelnen den Stab zu brechen. Es heiße vielmehr, sich zu erinnern, zu gedenken, damit derartige Dinge nie wieder geschehen. Denn wo Geschichtsbetrachtung nicht der Wahrheit entspreche, gerate dies zur Lüge und die Lüge zur Schuld. Geoffrey Hartmans Aussage lautete: Einer kollektiven Schuld kann man mit einer Erinnerungskultur begegnen.

Erinnerungskultur bedeutet: Geschichtsunterricht, Deutschunterricht, es bedeutet, der Wahrheit schonungslos ins Auge zu blicken. Geschichte kennt keinen Teppich und keine Beschönigungen. Sie ist passiert. Der Zivilisationsbruch ist geschehen. Leugnen hilft nichts. Dem müssen wir uns stellen. Indem wir uns erinnern.

Geoffrey Hartman, geboren 1929 in Frankfurt am Main als Gottfried Hartmann, ein Jude, gelang 1939 mit einem der letzten vom Baron de Rothschild finanzierten Kindertransporte die Flucht aus Nazi-Deutschland. Er starb im März 2016.

Alexander Amberg